Gefangene Seele
zukommen mochte, ging in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
Einige Augenblicke standen sie sich wenige Meter schweigend gegenüber. Dann sah sich Luke um und bemerkte die zahlreichen Zeichnungen, die sie von Raphael gemacht hatte. Raphael starrte ihn von allen Wänden herab an. Er lächelte wie die Gesichter auf den Skizzen, die zuvor der Polizeichef mitgenommen hatte. Das ergab keinen Sinn. Jade hatte erzählt, dass die einzigen Gesichter, die sie gezeichnet hatte, die von den Onkeln waren, die ihr Schmerz zugefügt hatten. Dann wurde es ihm plötzlich klar.
“Oh, Süße”, sagte er leise. “Raphael wollte dir nicht wehtun. Aber so ist der Tod nun einmal – es trifft jeden. Wir alle werden irgendwann einmal sterben müssen. Auch wenn du bei ihm gewesen wärest, auch wenn Raphael an seiner Krankheit gestorben wäre – du hättest es nicht ändern können. Du hättest ihn nicht dorthin begleiten können, wo er jetzt ist.”
Sie schwankte leicht. “Ich weiß nicht, wie ich das allein durchstehen soll. Ich dachte, ich könnte es, aber ich kann es nicht.”
Er ging zwei Schritte auf sie zu. “Was kannst du nicht?”
“Leben.”
Er berührte ihr Gesicht mit seinem Handrücken, und als sie sich nicht rührte, streichelte er ihre Wange mit der ganzen Hand.
“Oh, Baby … das ist leicht. Du atmest einfach ein und aus.”
Sie schwankte. Luke nahm sie hoch und trug sie hinüber zum Bett, nachdem er die Zeichnungen von der Decke gefegt hatte. Er legte sie hin und zog ihr die Bettdecke bis zur Taille, dann holte er sich einen Stuhl heran und setzte sich hin.
Sie beobachtete ganz genau jede einzelne Bewegung von ihm, bis er schließlich saß.
“Was tust du da?”, fragte sie.
“Mach die Augen zu”, sagte er leise.
“Das kann ich nicht.”
“Doch, Jade. Das kannst du. Du musst.”
Tränen rollten ihr aus dem Augenwinkel.
“Aber was ist, wenn ich träume?”
“Dann bin ich da.”
“Oh Gott”, sagte sie.
“Ich dachte, du glaubst nicht an Gott?”
“Tue ich auch nicht. Aber sollte es ihn dennoch geben, dann gibt es ihn dort draußen. Ich will nicht, dass er mich hier vergisst.”
Luke rutschte vom Stuhl und setzte sich neben sie auf das Bett.
“Als du klein warst, hast du da abends gebetet?”
“Nein.”
“Es ist wirklich einfach … und du wirst dich danach gut fühlen. Willst du es versuchen?”
Sie zuckte mit den Schultern, während ihr weitere Tränen übers Gesicht rannen.
“Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.”
“Aber ich weiß es.” Luke stand wieder auf und kniete sich vor dem Bett hin. “Du brauchst nicht aufzustehen”, sagte er ihr, “schließe einfach deine Augen.”
Aus Sekunden wurden Minuten, als Jade darüber nachdachte, was Luke gerade gesagt hatte. Gerade als er dachte, sie würde protestieren, nahm sie seine Hand und schloss die Augen.
Sehr gut.
“Sprich mir einfach nach, okay?”
“Okay.”
“Gott ist mein Hirt …”
“Gott ist mein Hirt …”
“Mir wird es an nichts mangeln …”
Sie wiederholte jede Zeile, die ihr Luke vorsprach, bis sie alle Verse des dreiundzwanzigsten Psalms aufgesagt hatten.
“Amen”, sagte Luke.
“Amen.”
Einige Sekunden lang war sie still, dann öffnete sie die Augen und sah Luke an.
“Glaubst du daran? Ich meine, durch das Tal des Todesschatten zu wandeln und keine Furcht zu haben?”
Er nickte.
Sie seufzte. “Okay, ich werd’s versuchen.”
Luke stand auf und wollte sich wieder auf den Stuhl setzen, als Jade nach seiner Hand griff.
“Erinnerst du dich daran, wie du versprochen hast, dass du mein Freund sein würdest?”
“Ja, natürlich.”
“Also wenn ich dich um etwas bitten würde … unter Freunden … würdest du etwas für mich tun?”
Lukes Magen krampfte sich zusammen. Er hatte das Gefühl, dass es nicht einfach sein würde, dennoch sagte er Ja.
“Würdest du dich neben mich legen? Ich habe fast nie in meinem Leben allein geschlafen, aber ich bin so müde. Wenn du einfach …”
Luke zog im Gehen seine Schuhe aus, als er sich auf die andere Seite des Betts bewegte. Dann krabbelte er neben sie. Sie legte sich auf ihre Seite, und mit der Bettdecke zwischen ihnen rückte er an ihren Rücken heran und legte seinen Arm um ihre Taille.
Sofort spannte Jade alle Muskeln an.
Luke seufzte.
“Ich bin nicht Raphael.”
“Nein”, sagte sie langsam, “das merke ich.”
“Also, wenn ich dir Angst mache, dann gehe ich wieder.”
Sie dachte darüber nach und versuchte
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