Gefangene Seele
über die Brüste. Sie war barfuß. Sie hatte sich die Zehennägel rosafarben lackiert, was einen großen Kontrast zu dem gelben langen Zigeunerinnenkleid ergab. Sie trug einen Kranz Gänseblümchen im Haar und einen kleinen Strauß Blumen in der Hand. Sie sah jung und glücklich aus. Augenscheinlich war sie sich nicht bewusst, dass sie sein Leben zerstört und ihm sein Kind gestohlen hatte. Ihr jetzt nach so langer Zeit gegenüberzustehen, machte ihn unendlich traurig und gleichzeitig sehr wütend.
“Also, sie behaupten, du wärest tot, stimmt das, Margaret? Oder Ivy … oder wie du dich zur Hölle auch genannt haben magst? Bist du tot?” Er erzitterte, als ihm bewusst wurde, wie verbittert er klingen musste. “Sei’s drum, meine Liebe. Eines Tages werde ich auch dort sein, wo du jetzt vielleicht bist. Dann kannst du mir möglicherweise erklären, was du dir dabei gedacht hast, als du verschwunden bist.”
Margaret sah ihn unverändert an. Ihr Lächeln blieb gleich, ihre Augenlider hatten nicht gezuckt. Die Gleichgültigkeit dieser Frau auf dem Bild begann, Sam unter die Haut zu gehen. Wie konnte sie so dastehen und lächeln, wenn sie doch dafür verantwortlich war, dass sich sein Leben auf so schreckliche Weise verändert hatte? Außerdem gab es ja auch noch Jade. Sein süßes kleines Mädchen. Wenn sie noch am Leben sein sollte, war sie jetzt schon lange kein Kind mehr.
Er stand von seinem Sessel auf und ging energisch auf das Bild zu. Nur knapp davor hielt er an und schaute der Figur ins Gesicht.
“Wo ist sie?”, murmelte er. “Was hast du mit Jade gemacht?”
Aber es gab immer nur Fragen, nie Antworten, was Margaret Cochrane anging. Es war sinnlos, ihr diese Fragen jetzt zu stellen.
Er lehnte sich vor und starrte auf die rechte untere Ecke über dem Rahmen. Der Fleck, der ihm schon früher aufgefallen war, war noch dort. Je länger er ihn ansah, desto sicherer kam Sam zu dem Schluss, dass es ein Fingerabdruck sein musste. Wenn das der Fall sein sollte, dann würde ihn der Abdruck zur Malerin und damit auch zu den Antworten führen, die er so verzweifelt suchte.
In diesem Moment erinnerte er sich an Luke Kelly. Wenn irgendjemand seine Fragen beantworten konnte, dann war es Luke. Sam griff zum Telefon, doch dann entsann er sich, dass Luke für einige Tage verreist war. Morgen würde er zurückkommen. Jedenfalls konnte er ihm auf seinen Anrufbeantworter sprechen. Sam rief Lukes Nummer an und hinterließ eine Nachricht, ohne zu wissen, wie sehr seine Stimme zitterte.
Als er aufgelegt hatte, sah er sich zum letzten Mal das Porträt an und ging dann hinaus in den Flur. Dort angekommen, schaltete er die Lichter aus und ließ das Gemälde seiner Frau genauso, wie sie ihn vor all diesen Jahren verlassen hatte – im Dunkeln und ohne sich noch einmal umzudrehen.
Luke Kelly betrat seine Wohnung, nachdem er fünf Tage unterwegs gewesen war. Er stellte seinen Koffer ab und drückte den Knopf an seinem Anrufbeantworter, bevor er sich den Stapel Post flüchtig durchsah. Der letzte Anruf war von Sam Cochrane.
Er lächelte, als er Sams Stimme erkannte. Sie kannten sich seit über zehn Jahren, und Sam war einer seiner besten Freunde. Aber je länger er dem Band zuhörte, desto klarer wurde Luke, dass er Sam noch nie so nervös erlebt hatte.
Ohne zu zögern, rief er seinen Freund zurück. Beim ersten Läuten nahm Sam ab.
“Ich bin zu Hause, was ist los?”
Sam atmete langsam aus. Allein die Stimme seines Freundes zu hören, beruhigte ihn irgendwie.
“Wann kann ich zu dir kommen? Ich muss mit dir reden!”
“Lass nur, ich komme schon.” Luke legte auf, bevor Sam antworten konnte.
Ohne sich umzuziehen oder seinen Koffer auszupacken, machte sich Luke auf den Weg, auch wenn er sich eigentlich dringend hätte rasieren müssen. Sam hatte ihn in den letzten elf Jahren kein einziges Mal um einen Gefallen gebeten. Wenn er es jetzt tat, dann musste es sich um etwas wirklich Wichtiges handeln. Luke griff nach den Wagenschlüsseln, fuhr sich in Ermangelung eines Kammes mit der Hand durchs Haar und eilte wieder aus der Tür.
Zwanzig Minuten später bog er in Sams Auffahrt ein. Sein Freund erwartete ihn schon an der Tür.
“Wo ist Velma?”, fragte Luke, als ihn Sam willkommen hieß.
“Sie ist gerade Großmutter geworden, deshalb habe ich ihr die Woche freigegeben.”
Luke versuchte zu lächeln. “Ich nehme nicht an, dass das der Grund ist, weshalb du mich angerufen hast.”
Sam schüttelte den Kopf “Nein,
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