Gefangene Seele
der Flucht sein. Würde es ewig so weitergehen?
* * *
Mit sechzig war Sam Cochrane immer noch ein ansehnlicher Mann. Er hatte volles dunkelgraues Haar und eine gerade Haltung. Er trat mit einer gewissen Autorität auf, die ihm gut stand und die seine Erfahrungen der letzten Jahre widerspiegelte. In den letzten zwanzig Jahren hatte er sich zu einem der bedeutendsten Bürger von St. Louis entwickelt. Durch kluge Anlagestrategien und seine florierende Anwaltskanzlei hatte er es zu einigem Reichtum gebracht. Im vergangenen Jahr hatte er sich von seinem aktiven Amt bei Gericht zurückgezogen.
Obwohl er stolz darauf war, so viel in seinem Leben erreicht zu haben, hätte er doch alles gegeben, um noch eine zweite Chance mit seiner Frau und Tochter zu bekommen, die er beide verloren hatte. Nachdem sie verschwunden waren, hatte er jeden Cent, den er erübrigen konnte, in Privatdetektive investiert, um sie zu finden, allerdings ohne Erfolg.
Schließlich hatte er die Suche aufgegeben in der Hoffnung, dass Jade eines Tages nach ihm suchen würde. Deswegen war er nie aus seinem alten Haus ausgezogen, obwohl er sich längst ein viel größeres Haus in einer besseren Gegend hätte leisten können. Es verging kein Tag, an dem er nicht an die beiden dachte. Er wollte nicht daran glauben, dass sie ebenso gut bereits tot sein mochten. Dann kehrten Paul und Shelly Hudson aus ihrem Urlaub in Kalifornien zurück.
Es war drei Uhr nachmittags an einem Sonntag, als es an Sam Cochranes Haustür klingelte. Normalerweise hätte Velma Shaffer, die Haushälterin, die seit zehn Jahren seinen Haushalt versorgte und auch bei ihm lebte, die Tür geöffnet. Aber am Freitag zuvor hatte ihre Tochter ihr erstes Kind zur Welt gebracht, und Sam hatte Velma die ganze Woche freigegeben.
Er hatte keinen Besuch erwartet und zog eine Grimasse, weil das Klingeln ihn bei der Lektüre eines Buches störte. Er klemmte eine Werbesendung, die er vergessen hatte wegzuwerfen, zwischen die betreffenden Seiten und stand auf, um zu öffnen. Die Bibliothek war ein wenig von der Eingangstür entfernt, sodass es seine Zeit brauchte, dorthin zu gelangen. Bis er endlich die Tür erreichte, hatte es bereits zwei weitere Male geschellt.
Sam zog seine Stirn in noch tiefere Falten, aber als er sah, dass Paul und Shelly vor der Tür standen, hellte sich sein Gesicht wieder auf.
“Hey! Ihr beiden seid es! Kommt ‘rein, kommt ‘rein! Ich dachte, ihr wärt noch in San Francisco.”
Sie beeilten sich, ins Haus zu kommen und hatten ein großes Paket bei sich, das aussah wie ein gerahmtes Bild.
“Was bringt ihr da mit?”, fragte Sam.
Shelly biss sich auf die Unterlippe und überlegte, wie sie es sagen sollte.
“Zeig es ihm einfach”, riet Paul.
Shelly holte einmal tief Luft und drehte dann langsam das Bild zu Sam hin, bis er die Vorderseite ganz sehen konnte.
Sams Gesicht wurde bleich und man konnte hören, wie schwer es ihm fiel zu atmen. Vor seinen Augen verschwamm das Bild, und seine Hände fingen an zu zittern.
“Oh Gott, oh Gott … wo habt ihr das her?”
“Von einem Straßenmarkt in San Francisco.”
“War sie dort? Habt ihr sie gesehen?”
“Nein Sam, sie war nicht da.”
Der winzige Moment, in dem Sam Hoffnung geschöpft hatte, verflog. Aber die Tatsache, nach all diesen Jahren ihr Gesicht zu sehen, brachte ihn aus der Fassung. Er trat auf das Porträt zu und legte eine Hand auf das Gesicht auf der Leinwand. Dann fuhr er mit dem Zeigefinger die Linie ihrer Augenbrauen und ihrer Wangenknochen nach.
“Maggie … Maggie.”
Er sah auf. Shellys Augen waren voller Tränen.
Sams Herz raste, er hatte Angst.
“Was wollt ihr damit sagen?”
Paul streckte den Arm aus und legte seinem Freund eine Hand auf die Schulter.
“Shelly konnte ihren Augen nicht glauben, als sie das Porträt sah. Sie erzählte der Malerin, dass sie die Frau auf dem Bild gekannt hatte, und dass sie Margaret Cochrane hieß. Die Malerin erzählte ihr, dass die Frau sich selbst Ivy nannte.”
Sam runzelte die Stirn. “Willst du damit sagen, das hier ist gar nicht Margaret?”
“Nein. Ich erzähle dir nur, was die Frau Shelly gesagt hat.”
Sam sah Shelly an. “Was hat sie dir noch erzählt?”
Shelly zögerte.
“Red doch!”, forderte Sam sie auf. “Du kannst mir nicht einfach dieses Bild herbringen und mir dann nicht alles genau erzählen, was du weißt – nicht nach all diesen Jahren!”
Shelly riss sich zusammen, aber sie fürchtete sich, ihrem Freund selbst die
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