Gefangene Seele
schlechte Nachricht zu überbringen, von der sie wusste, dass sie Sam verletzen würde.
“Sam, es tut mir leid. Aber sie hat uns auch erzählt, dass die Frau auf dem Bild gestorben sei.”
Es war nicht so, dass Sam nie darüber nachgedacht hätte, dass Maggie tot sein könnte, aber da er nun die Worte ausgesprochen hörte, war ihm, als zerreiße es ihm das Herz.
“Nein!”, entfuhr es ihm. Dann sah er hinab auf das Bild, das das Gesicht seiner jungen Frau darstellte. Sie sah nachdenklich aus. “Nicht tot. Bitte, Gott, lass sie nicht tot sein.”
“Das hat uns die Malerin erzählt.”
Aber Sam brauchte einen Hoffnungsschimmer, einen Strohhalm, an dem er sich festhalten konnte. “Vielleicht hat sie euch ja angelogen? Was, wenn sie euch das nur gesagt hat, um Margarets Aufenthaltsort nicht zu verraten?” Er betrachtete das Gemälde und suchte nach einer Signatur, aber er konnte nichts außer einem seltsamen farbigen Fleck in der rechten unteren Ecke finden, der aussah wie ein Fingerabdruck.
“Die Malerin machte nicht den Eindruck, als habe sie etwas zu verbergen. Ganz im Gegenteil, sie wirkte sehr distanziert, als sie uns vom Tod ihres Modells erzählte.”
“Ich muss mit ihr reden!”, brachte Sam hervor. “Wisst ihr, wie sie heißt?”
Shelly ließ den Kopf sinken. “Nein. Es tut mir leid. Ich war so aufgeregt, als ich das Bild entdeckte … dann wollten sie, dass ich bar bezahle, und meine Freundin und ich waren so damit beschäftigt, unsere Barschaft zusammenzulegen. Dann ging die Künstlerin weg und überließ es einem Mann, der mit am Stand war, zu kassieren.”
“Verdammt!”, murmelte Sam. “Ich kann es einfach nicht dabei belassen … nicht nach so langer Zeit.”
Shelly sah Sam an und begann dann zu weinen.
“Ich weiß nicht, wie ich darauf gekommen bin, dir das Bild zu kaufen. Eigentlich wollte ich dir eine Freude machen, und nun habe ich dich nur traurig gemacht. Wirst du mir jemals verzeihen?”
Plötzlich ging Sam auf, was er getan hatte. Shelly und Paul hatten ihm ein Geschenk gemacht, das alles übertraf. Und anstatt ihnen dankbar zu sein, dass sie ihm den einzigen Hinweis auf seine Frau gaben, den er in den letzten zwanzig Jahren bekommen hatte, war er gedankenlos, ja unwirsch. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Dann reichte er den beiden seine Hände.
“Nein. Nein. Ich bin es, der sich bei dir entschuldigen muss. Es tut mir leid, dass ich mich eben so schlecht benommen habe, aber ich war so überrascht.”
“Das ist okay”, sagte Shelly. “Wir hätten dich warnen sollen, anstatt dich einfach so zu überfallen. Aber ich war so aufgeregt, dass …”
“Aber so geht es mir doch auch”, unterbrach Sam sie. “Aber ich schäme mich für mein Verhalten.” Er streckte seine Arme aus. Shelly ging einen Schritt auf ihn zu und er umarmte sie. “Verzeihst du mir?”
“Natürlich tue ich das”, murmelte sie, “und mit dem Bild machst du, was du willst.”
“Danke”, sagte Sam.
Er nahm Paul das Bild ab und lehnte es zögernd mit der Vorderseite gegen die Flurwand. “Jetzt kommt erst einmal herein, ich mache euch einen Kaffee und ihr erzählt mir, wie es in Kalifornien war.”
Das Paar ging vorweg ins Wohnzimmer und konnte so nicht den verzweifelten Ausdruck auf Sams Gesicht sehen. Sie bemerkten auch nicht, dass er innehielt und sich noch einmal nach dem Bild im Flur umdrehte. Erst später, als sie sich verabschiedet hatten, konnte Sam seinen Gefühlen, die er zuvor unter Kontrolle gehalten hatte, freien Lauf lassen. Er trug das Porträt in die Bibliothek, wo ein echter Wyeth über einem niedrigen Regal hing. Er nahm ihn von der Wand und hängte an dessen Stelle das Bild von der Frau auf, die sich Ivy nannte.
Seine Hände zitterten, als er wieder zu dem Sessel zurückging, auf dem er am Nachmittag gesessen und gelesen hatte – bevor seine sorgfältig geordnete Welt ein weiteres Mal aus den Fugen geraten war. Er nahm das Buch wieder zur Hand, warf die Werbung weg, die er als Lesezeichen benutzt hatte, und sah hinunter auf das Papier. Er konnte die Wörter nur verschwommen wahrnehmen.
Er atmete langsam ein und wischte sich die Augen. Noch einmal versuchte er, die Stelle des Textes zu lesen, an der er aufgehört hatte. Aber die Zeilen verschwammen vor seinen Augen. Er ließ das Buch aus seinen Händen auf den Boden gleiten und starrte in den Raum.
Sie lächelte ihn vor dem Hintergrund mit Efeu an. Ihre langen blonden Haare fielen ihr über die Schultern und
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