Gefangener der Sinne - Singh, N: Gefangener der Sinne
so zu entscheiden.“
Er schüttelte den Kopf, sein Leopard hatte voller Panik die Krallen ausgefahren und kratzte wie wild an seiner Haut. „Geh schon, Shaya. Der Wagen ist auf dich eingestellt, die Strecke einprogrammiert. Wirf die automatische Steuerung an und verschwinde endlich, zum Teufel noch mal.“
Sie zog ihre Hand langsam zurück. „Das war Raserei. Sie war so schwer verletzt, dass sie bestimmt nicht weit gekommen ist.“
„Geh!“
Sie nickte steif und rannte zum Wagen. Eine Minute später fuhr sie an ihm vorbei; er trug die junge Frau von der Straße weg zu einer Reihe von sorgfältig beschnittenen Bäumen am Straßenrand. Sie dienten als Zaun für die dahinterliegenden Wohnhäuser. Kleine, schmale Würfel, in denen kein Raubtier gern wohnen wollte, die Medialen aber gefielen. Das junge Mädchen musste aus dem Haus gekommen sein, das in nächster Nähe stand.
Die Tür stand offen, und schon von der Einfahrt her sah er den blutigen Handabdruck. Das Blut war verwischt, als wäre sie ausgerutscht. Und dann bemerkte er immer mehr Blut – auf der Treppe, auf dem weißen Pflaster der Einfahrt und zu seinen Füßen.
Vorsichtig wich er den noch feuchten Spuren aus und trug das Mädchen dorthin, wo sie einst in Sicherheit gewesen war. Genau wie bei Kylie. Es roch wie in einem Schlachthaus. Irgendetwas Krankes war an dem Geruch, doch das konnte nur jemand erkennen, der über einen ebenso ausgeprägten Geruchssinn verfügte wie ein Gestaltwandler. Es war etwas Schreckliches und äußerst Gewaltvolles in diesem kleinen weißen Haus geschehen.
Dorian stand auf der Türschwelle und sah etwas, das ihn für einen kurzen egoistischen Augenblick wünschen ließ, er wäre eine Minute früher vorbeigefahren und hätte den Anblick des Blutbades verpasst, das sich seinen Augen bot. Nun waren diese Bilder in sein Gedächtnis eingebrannt und würden zusammen mit jenen, die ihn Nacht für Nacht quälten, in eine Ecke seines Bewusstseins verbannt werden. Er drückte den Körper des Mädchens fester an sich und ging hinein.
Eine kleine, zarte Hand war das Einzige, was er von einer weiteren weiblichen Leiche im nächsten Zimmer sah. Er schaute hinein; sie konnte höchstens dreizehn gewesen sein. Jemand hatte nur einmal auf sie eingestochen, aber die Waffe hatte ihr Herz durchstoßen. Die für Mediale typischen strengen Möbel befanden sich in einem einzigen Durcheinander, als hätte sie sie bei einem verzweifelten Fluchtversuch umgestoßen. Sie war nicht einmal bis zur Schwelle gekommen.
Er drehte sich um und wandte sich der anderen Seite des Ganges zu. Ein weiterer Raum, eine weitere Leiche. Diesmal männlich. Schlank, vielleicht Anfang zwanzig. Er hatte sich verbissen gewehrt – und lag jetzt mit blutig zerschnittenen Armen auf dem hellen Teppich, seine Brust war voller Stichwunden. Das Zimmer legte schweigend Zeugnis von seinem Überlebenskampf ab, die harten Plastikstühle waren zerbrochen und blutbespritzt.
Dorian folgte den blutigen Spuren auf dem Teppichboden bis zu den Schlafzimmern. Im ersten fand er einen Mann mittleren Alters. Er lag auf dem Rücken, der Tod war durch einen Stich ins Herz eingetreten, den er sich anscheinend selbst zugefügt hatte. Eine Hand umklammerte noch immer das Heft des Messers. Sein Gesicht zeigte keinen Frieden und auch nicht die eisige Ruhe der Medialen. Der Mann sah gequält aus. Als habe er einen Blick in den Abgrund der Hölle getan.
Dorian nahm hinter sich eine Bewegung wahr. Er drehte sich langsam um.
Der Teleporter war von Kopf bis Fuß in das Schwarz der medialen Elitegarde gekleidet. Auf seiner Uniform prangte das bekannte Emblem der beiden kämpfenden Schlangen – das Erkennungszeichen Mings.
Die beiden Männer sahen sich in die Augen. Kühles Medialengrau. Leuchtendes Gestaltwandlerblau. Dorian hatte den Mann sofort erkannt. Trotz des Emblems war der Mediale ein Gefolgsmann Anthonys. Er hatte Zie Zen abgeholt.
Die Aufmerksamkeit des Medialen wandte sich der Leiche der jungen Frau zu. „Sie müssen gehen.“ Er hob die Arme.
Dorian drückte die Tote fester an sich. „Was werden Sie mit ihr machen?“
„Sie verschwinden lassen“, war die gnadenlose Antwort. „Alle müssen verschwinden.“
Dorians Kiefermuskeln mahlten. „Nein. Ich will ihren Namen.“
Fast eine Minute lang starrte der Mediale ihn an, dann blinzelte er. Ein dünnes Stück Plastik lag in seiner Hand. „Die Geburtsurkunde.“
„Haben Sie keine Angst, ich könnte alles ausplaudern und Ihre
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