Gefangener der Sinne - Singh, N: Gefangener der Sinne
Tarnung auffliegen lassen?“
„Nein. In einer Stunde wird hier alles sauber sein, nicht einmal Gestaltwandler könnten dann noch den Geruch von Blut wahrnehmen.“ Als wolle er das beweisen, richtete der Mediale seine Augen auf den Teppich und Dorian konnte buchstäblich zusehen, wie die Blutstropfen sich von den Fasern lösten und Zentimeter darüber in der Luft stehen blieben.
Der Leopard knurrte tief in Dorians Kehle. „Wo ist Ihr Trupp?“
„Sie sind mit dem Wagen unterwegs.“ Der Mann streckte ihm erneut die Arme entgegen. „Sie müssen mir die Leiche geben und verschwinden. Wenn der Reinigungstrupp eintrifft, kann ich Ihre Anwesenheit nicht mehr verbergen.“
„Warum machen Sie so etwas, wenn Sie nicht mehr an den Rat glauben?“
„Freiheit hat ihren Preis.“ Die Augen des Mannes wurden schwarz. Mehr und mehr Blut hob sich vom Teppich und von den Wänden ab. „Sie müssen gehen. Das Medialnet ist noch nicht bereit für dieses Wissen. Aber eines Tages wird es so weit sein.“
Dorian ging über den nun sauberen Teppich und stellte sich direkt vor den Medialen, die Leiche der jungen Frau immer noch in den Armen. „Werden meine Erinnerungen denn Beweis genug sein?“ Ein Rechtsmedialer könnte die Bilder aus seinem Kopf aufrufen und dem Gericht zur Verfügung stellen, wenn Dorian kooperierte. „Und Ihre Erinnerungen?“
Der Mediale nahm das Mädchen mit derselben Behutsamkeit entgegen, mit der Dorian sie ihm übergab. „Ich bin müde.“ Ruhig und gelassen. „Ich kann nicht immerzu Leute auslöschen, als seien es nur Buchstaben auf einem Stück Papier. Irgendwann werde ich einen Fehler begehen. Und dann werde ich sterben.“
Dorian hörte Schritte auf der Auffahrt. „Sie haben kein Recht, müde zu sein.“ Er nahm die Geburtsurkunde, die zwischen ihnen in der Luft schwebte. „Erst wenn Sie den Namen dieses Mädchens auf einen Gedenkstein geschrieben haben, wenn Sie dem vergossenen Blut Reverenz erwiesen haben, dürfen Sie Ihrer Müdigkeit nachgeben.“ Er ließ dem Mann keine Zeit für eine Antwort, wandte sich ab und ging zur Hintertür, denn der Reinigungstrupp kam vom Vordereingang. Hinter ihm stieg eine Wand von Blut nach oben.
Ein weiteres Bild, das er seiner Galerie von Albträumen hinzufügen konnte.
28
Dorian neigt zu Obsessionen. Ich mache mir Sorgen um ihn. Wenn er sich wieder dem Abgrund zuwendet, wenn er die Dunkelheit wählt, weiß ich nicht, ob wir ihn zurückholen können.
– Mail von Sascha Duncan an Tamsyn Ryder
Ashaya hatte sich nicht an Dorians Befehl gehalten. Sie wusste, dass sie damit ein Risiko einging, aber sie konnte ihn einfach nicht verlassen. Sie war eineinhalb Kilometer gefahren, hatte alle Schilde hochgezogen, um den Telepathen zu entgehen, und sich in den Schatten eines Baumes gestellt. Man konnte den Wagen immer noch sehen, aber das ließ sich eben nicht vermeiden.
Sie würde eine Viertelstunde auf ihn warten. Wenn er bis dahin nicht zurück war …
Die Fahrertür öffnete sich.
„Rutsch rüber“, sagte Dorian knapp, seine Kleider waren blutdurchtränkt.
Schnell glitt sie auf die Beifahrerseite, und nur Sekunden später setzten sie ihren Weg fort. „Was hast du herausgefunden?“
„Eine ganze Familie, tot. Mord und Selbstmord.“
Sie schluckte. „Jemand hat Silentium gebrochen“, vermutete sie, „und ist darüber wahnsinnig geworden. Es gibt immer wieder mal vage Gerüchte, dass solche Dinge passieren.“
„Ich hab dir doch gesagt, du sollst verdammt noch mal verschwinden.“ Dorian bog mit quietschenden Reifen in eine Seitenstraße ein. „Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?“
Seine scheinbare Ruhe hatte sie in Sicherheit gewiegt. Ihr Kopf fuhr hoch. „Ich dachte, du könntest vielleicht Hilfe …“
„Ich bin ein Wächter“, unterbrach er sie schneidend. „Ich kann auf mich selbst aufpassen. Ich bin kein Krüppel, auch wenn du das denkst.“
„Ich habe nie …“
„Genau, du denkst nie nach“, sagte er, und sie hatte das Gefühl, als schabe ein Rasiermesser über ihre Haut, so zornig war er. „Hast du dir je überlegt, wie sehr es Keenan treffen würde, wenn du gefasst oder getötet würdest?“
Schuldgefühle pressten ihr Herz zusammen. „Nein.“
„Mein Gott.“
Sie spürte, wie ihr verzweifelter Versuch, ihrem Gefühlsausbruch Einhalt zu gebieten, sich in nichts auflöste. Versuchte, sich wieder zusammenzureißen. Sie ballte die Fäuste. „Wage bloß nicht, meine Gefühle für Keenan zu
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