Gefangener der Sinne - Singh, N: Gefangener der Sinne
wollte sie nur bei guter Laune halten, weil er dachte, sie könnte das Implantat herstellen, das ihm die Herrschaft über alle Medialen verschaffte. Vielleicht würde er diese Herrschaft mit den anderen Ratsmitgliedern teilen, vielleicht auch nicht. Für Amara bedeutete das keinen Unterschied. „Was das Finden von Ashaya angeht …“ Sie schnappte theatralisch nach Luft. „Oho, da hätte ich doch fast die Katze aus dem Sack gelassen. Böse Amara.“
Ming starrte sie an. Ob er wohl darauf wartete, dass sie aufgab? Seine nächsten Worte waren allerdings eine Überraschung. „Ashaya und du, ihr seid genetisch identisch. Derselbe Schoß hat euch geboren, ihr seid in derselben Umgebung aufgewachsen.“
„Bis du mich zur Flucht getrieben hast.“ Sie zog eine Flunsch. „Warum musstest du auch den Befehl geben, mich zu rehabilitieren?“
„Und dennoch“, fuhr er unbeirrt fort, als hätte sie nichts gesagt, „bist du vollkommen defekt, während Ashaya – abgesehen von ihrer unglücklichen politischen Verblendung – immer die perfekte Mediale war.“
Amara fragte sich, ob Ming tatsächlich so blind war. Oder hatte ihre Zwillingsschwester es geschafft, ihre Maske in solch hohem Maße zu vervollkommnen? Nun, dann würde dieses Spiel ja sehr interessant werden. Prima. „Wir sind eben ein Rätsel. Vielleicht solltest du uns erst studieren, bevor du uns umbringst.“
„Über deinen Tod zu sprechen fällt dir ja leicht.“
„Ich bin kein Närrin, Ming. Sobald ich dir das Implantat übergebe, sind Ashaya und ich tot.“
„Ein guter Grund für Verzögerungstaktiken.“
„Wohl wahr“, stimmte sie ihm mit einem sorglosen Achselzucken zu. „Wie dem auch sei, ich finde den Gedanken an Unsterblichkeit ziemlich … anziehend. Das Implantat wird uns beide überleben.“
„Dann bist du also sicher, dass du es herstellen kannst?“
Amara hob eine Augenbraue und kicherte innerlich über das Geheimnis, das nur Ashaya und sie selbst kannten. Ming würde das Implantat sofort vergessen, wenn ihm klar werden würde, dass bereits etwas viel Besseres existierte.
Aber das war ihr Geheimnis. Das sie nur mit Ashaya teilte … und mit Keenan.
27
Wenn er lächelt, könnte er alles von mir fordern, ich würde es ihm ohne Zögern geben. Nie in meinem Leben habe ich mich verletzlicher gefühlt. Dieser Mann, dieser Leopard, könnte mich zerstören.
– aus den verschlüsselten Aufzeichnungen Ashaya Aleines
Ashaya holte tief Luft. „Meine Schwester.“ Sie sah hinaus auf die Eukalyptusbäume, die aufgrund einer ökologischen Fehlentscheidung in dieser Gegend angepflanzt worden waren und sich nun der Ausrottung erfolgreich widersetzten. Wenn Feuer ausbrach, brannten sie lichterloh. „Meine Schwester ist wie diese Bäume. Ein vollkommener Anblick, hervorragend gestaltet – ihr Verstand arbeitet fehlerfrei, ihre Intelligenz ruft Erstaunen hervor –, doch schon ein einziges Streichholz würde genügen, um diese Perfektion zu zerstören.“
Dorian strich mit den Fingerspitzen über Ashayas Schulter, und sie lehnte sich an seine Hand. Sie brauchte seine Stärke, musste sich vergewissern, dass sie nicht allein war. „Sie ist nicht geistesgestört“, sagte Ashaya. „Oberflächlich gesehen, scheint sie den Unterschied zwischen Richtig und Falsch zu begreifen. Aber … sie begreift es nicht ganz. Sie tut Dinge, ohne an die Konsequenzen zu denken, Dinge, die normale Leute als grausam bezeichnen würden.“
Dorians Augen wurden plötzlich kalt und gefühllos, seine Hand bewegte sich nicht mehr. „Dann ist sie also die Psychopathin, vor die du dich dein ganzes Leben lang schützend gestellt hast.“
„Ja“, gab sie zu, senkte aber nicht die Augen, wollte sich nicht dafür entschuldigen. „Sie ist meine Zwillingsschwester.“ Und sie hatte Ashaya das größte Geschenk ihres Lebens gemacht. „Ich konnte nicht anders entscheiden.“
„Eine wahre Mediale hätte das gekonnt.“
„Ich glaube, wir sind beide mit einem Defekt zur Welt gekommen, nur zeigt er sich bei jeder von uns auf eine andere Weise.“ Sie wartete ab, was er tun würde, dieses Raubtier, das die Kälte von Silentium so sehr hasste, dass es wehtat.
„Was noch, Ashaya? Ich will alles hören.“
Es war erleichternd, über Amara zu sprechen, ohne die Wahrheit verschleiern zu müssen. „Uns verbindet ein unzerstörbares Zwillingsband – darum kann sie mich auch immer finden, es sei denn, ich fahre meine Schilde hoch, so stark ich es vermag.“ Sie hielt
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