Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)
ich?«
»Ihre Mutter hat Ihnen wahrscheinlich erzählt, was damals geschah«, sagte ich schnell, »aber da drinnen steckt mehr … In diesen Aufzeichnungen bezieht sich Ihre Mutter auf die Geschichte, die sie eines Tages ihrer Tochter erzählen wollte, und ich habe mir gedacht, wenn sie nicht dazu gekommen sein sollte … nun, hier ist sie.«
Die ganze Woche hatte ich mir diese Sätze vorgesagt, so oft, daß ich beinahe angefangen hätte, sie selbst zu glauben. Jetzt aber, als die Worte ausgesprochen waren, mußte ich an mich halten, um ihr nicht zu sagen, daß dies nicht der wahre Grund meines Kommens war. Absolut nicht.
»Ich weiß nicht.« Ihr Blick ruhte unverwandt auf dem Paket.
»Es gehört Ihnen«, sagte ich. »Ich brauche es nicht mehr.«
Ich stand auf und ging zu ihr. Die Absätze meiner Stiefel knallten auf dem Holzfußboden. Ich legte ihr das Paket auf den Schoß. Dann kehrte ich zu meinem Stuhl zurück und setzte mich wieder.
Gleich, dachte ich, würde ich mich verabschieden, zu meinem Wagen gehen und nach Manhattan zurückfahren. Ich hatte auf der Upper East Side eine angenehm große Eigentumswohnung mit schönem Blick auf den Hudson. Ich hatte meine Arbeit – ein neues Buch, das ich gerade in Angriff genommen hatte – und meine Freunde. Ich hatte nie geheiratet und hatte keine Kinder, aber ich hatte einen Freund, Redakteur bei der Times , der manchmal bei mir übernachtete.
Meine Freunde behaupten, ich wäre eine Frau, die ganz in ihrer Arbeit aufgeht. Aber das stimmt nicht ganz. Ich bin ein Sportfreak und ein Opernfan, und ich bin gern mit Männern zusammen. Aber da ich schon früh beschlossen hatte, keine Kinder in die Welt zu setzen, konnte ich nie einsehen, warum ich heiraten sollte.
Ich hatte das Paket in braunes Papier eingeschlagen und mit Tesafilm verklebt. Ich sah ihr zu, wie sie das Klebeband abzog und das Paket öffnete. Obenauf hatte ich das Memo gelegt. Ich hatte nichts unterschlagen.
»Die handschriftlichen Aufzeichnungen Ihrer Mutter habe ich nicht mehr«, bemerkte ich. »Das hier sind meine getippten Abschriften. Ich arbeite lieber mit Unterlagen, die mit Maschine geschrieben sind, selbst wenn es sich um meine eigenen Aufzeichnungen handelt. Im übrigen ist alles da, genauso, wie ich es gehört habe.«
Aber sie hörte mir gar nicht zu. Sie las die erste Seite, dann die zweite. Sie stützte sich jetzt mit einer Hand auf. Ich öffnete meinen Mantel. Ich hatte gehofft, sie würde ein, zwei Sätze überfliegen, oder vielleicht ein wenig blättern, dann aufsehen und mir danken und noch einmal sagen, sie hätte jetzt ein Seminar. Aber sie las immer weiter, blätterte leise eine Seite nach anderen um.
Ich dachte an ihr Seminar und überlegte, ob ich etwas sagen solle.
Wieder hörte ich Lärm im Korridor, dann war es still.
Zehn Minuten saß ich da und wartete. Dann ging mir auf, daß sie vorhatte, den ganzen Manuskriptstapel auf der Stelle durchzulesen.
Ich schaute mich im Zimmer um, sah zum Fenster hinaus. Es schneite immer noch.
Ich stand auf.
»Ich gehe inzwischen ein bißchen spazieren«, sagte ich. Sie hob nicht einmal den Kopf. »Vielleicht bekomme ich irgendwo einen Kaffee.«
Ich wartete.
»Soll ich …?« Ich brach ab. Es war sinnlos, sie zu fragen, ob ich wiederkommen solle. Mir war bereits klar, daß es unverantwortlich gewesen wäre, einfach zu verschwinden. Nicht zur Stelle zu sein, wenn die Reaktion einsetzte und sie jemanden brauchte, um ihre Fragen zu beantworten.
Plötzliche Panik überfiel mich. Vielleicht, dachte ich, wäre es besser gewesen, ich wäre gar nicht hergekommen. Vielleicht hätte ich ihr die Papiere gar nicht bringen sollen.
Aber ich hatte schon vor langem gelernt, mit plötzlichen Ängsten und Zweifeln fertigzuwerden. Es war ganz einfach. Ich brauchte mich nur zu zwingen, an etwas anderes zu denken. Und genau das tat ich. Ich dachte einfach daran, daß ich mir jetzt erst mal ein Motelzimmer und dann ein anständiges Restaurant suchen sollte.
Sie hob den Kopf und sah mich an. Ihre Augen wirkten glasig vom intensiven Lesen. Ihre Hand, die zur nächsten Seite blätterte, zitterte.
Sie sah mich an, als wäre ich eine Fremde, die ihr Zimmer noch gar nicht betreten hatte. Ich konnte nur vermuten, was sie dachte, was sie hörte, was sie fürchtete.
Dabei kannte ich diese Geschichte und die Frau, die sie erzählte, besser als jeder andere.
Und auch die Frau, die die Geschichte dann nacherzählte …
Die Aufzeichnungen und Protokolle
Von:
Weitere Kostenlose Bücher