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Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Titel: Gefesselt in Seide: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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und hätte den Ladeninhaber vermutlich auf den zweiten Platz verwiesen, wenn die beiden auf die Waage gestiegen wären. Sie hatte wäßrig blaue Augen, fast keine Brauen und ein Gesicht mit stark geröteter, rauher Haut. Ihre Zähne waren groß und sehr weiß, und zwischen den beiden vorderen klaffte eine kleine Lücke – eine Besonderheit, der ich bei den Leuten am Ort häufig begegnen würde. Vielleicht ist sie Ihnen auch aufgefallen. Das graumelierte Haar trug sie in einem praktischen kurzen Schnitt. Ich schätzte sie auf ungefähr fünfzig, hatte aber gleichzeitig den Eindruck, daß sie sich schon früh in einer Zeitlosigkeit der Erscheinung eingerichtet hatte, die ihr lange Jahre erhalten bleiben würde. Als sie umblätterte, hob sie den Kopf und sah mich an.
    »Das macht fünfhundertzweiundachtzig Dollar«, sagte der Ladeninhaber.
    Der Mann mit dem Schnauzer zog seine Brieftasche aus der Hosentasche und lächelte über den dünnen Witz. Er reichte dem Händler einen Zehn-Dollar-Schein, und ein Gespräch entspann sich zwischen den beiden. Kann sein, daß ich den Wortlaut nicht ganz richtig hinkriege, aber ich habe es folgendermaßen im Kopf.
    »Everett Shedd, du machst mich noch arm.«
    »Keine Beschwerden, Willis. Das schaffst du doch allein.«
    »Stimmt. Dieser elende Winter. Um diese Zeit verdient doch keiner am Ort auch nur einen Penny.«
    »Hast du dein Boot schon raus?«
    »Nein. Das mach ich am fünfzehnten wie jedes Jahr. Zwei beschissene Wochen versuch ich’s noch. Auch wenn der Fang erbärmlich ist.«
    »Jetzt werd mir nur nicht verbittert, Willis. Dazu bist du noch zu jung.«
    »Ich bin schon verbittert zur Welt gekommen.«
    Der Ladeninhaber lachte. »Das kann man sagen.«
    Der Mann mit dem Schnauzer nahm sein Wechselgeld von der Theke und ergriff die Tüte mit seinen Einkäufen. Ich rückte mit meinen Sachen nach und stellte Milch, Kuchen und Bier ab. Hastig zog ich mit der freien Hand das Tuch fester um meinen Kopf.
    Der Mann mit dem Schnauzer zögerte einen Moment, dann sagte er: »Hallo, Rotfuchs.«
    Ich nickte. Ich war das gewöhnt.
    »Was kann ich für Sie tun?« fragte der Händler. Das Glasauge sah mich an. Es war blau. Das andere Auge war graugrün.
    »Ich nehme die Sachen hier«, sagte ich. »Und wissen Sie vielleicht ein Motel, wo ich mit dem Kind übernachten könnte?« fügte ich schnell hinzu. Es klang wie einstudiert.
    »Sie sind auf der Durchreise?« fragte der Ladeninhaber.
    Ich tippte auf die Sachen auf dem Tresen und wollte meine Geldbörse aus der Tasche holen. Der Schulterriemen rutschte mir den Arm hinunter, und ich mußte die Kleine anders nehmen.
    »Ich weiß noch nicht. Vielleicht bleibe ich auch«, antwortete ich und senkte den Blick zur Theke – einem zerkratzten Stück Resopal, das auf der einen Seite von einer Blechdose Dörrfleischstreifen begrenzt war und auf der anderen von einer Auslage bunter Zuckerstangen. Mir war klar, daß der Ladenbesitzer sich wunderte, wieso eine Frau mit einem kleinen Kind in der ersten Dezemberwoche an der Nordküste von Maine ein Motelzimmer suchte, vielleicht sogar für mehr als eine Nacht.
    »Tja, in St. Hilaire gibt’s leider nichts«, sagte er, als täte es ihm wirklich leid, mich enttäuschen zu müssen. »Da müssen Sie schon nach Machias rüberfahren.«
    »Außer Sie gehen ins Gateway , das ist ungefähr auf halbem Weg nach Machias«, bemerkte der Mann mit dem Schnauzer, der beim Zeitschriftenständer stehengeblieben war. Ich warf einen Blick auf die Hefte – Yankee , Der Angler , Unsere Familie und andere. Ich sah den vertrauten Titel, und mein Blick blieb an ihm hängen, als hätte ich in einem Spiegel mein eigenes Gesicht wahrgenommen oder das Gesicht eines Menschen, an den ich nicht erinnert werden wollte.
    »Muriel hat so an die zehn Zimmer. Sie würde sich über das Geschäft freuen.«
    »Stimmt«, bestätigte der Ladeninhaber. »Dann brauchen Sie nicht bis nach Machias rein. Eine Augenweide ist es nicht gerade, aber es ist sauber.«
    Caroline begann leise zu weinen. Ich schaukelte sie, um sie zu beruhigen.
    »Das macht drei dreizehn«, sagte der Ladenbesitzer.
    Ich bezahlte und öffnete meinen Mantel. Ich schwitzte in dem heißen Laden.
    »Woher kommen Sie?« fragte der Mann.
    Ich zögerte vielleicht eine Sekunde zu lang. »New York«, antwortete ich kurz.
    Die beiden Männer tauschten einen Blick.
    »Wie komme ich von hier aus zu dem Motel?« fragte ich.
    Der Ladeninhaber verstaute meine Einkäufe in einer Papiertüte und

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