Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)
Tennisschuhen fest auf den Boden gedrückt, die Arme verschränkt, saß die junge Frau mir gegenüber. Nicht abwehrend, eher vorsichtig, fand ich. Sie hatte Blue Jeans an (Levi’s, keine Designer-Jeans) und dazu einen grauen Baumwollpulli, unter dem sie ein langärmeliges weißes T-Shirt trug.
Ihrer Mutter war ich nur zweimal begegnet, einmal bei einem wichtigen Anlaß, aber ich hatte mir das Gesicht der Frau aus beruflichen Gründen merken müssen. Die Tochter hatte die gleiche Haarfarbe – ein tiefes Rotgold. Aber die Augen hatte sie eindeutig vom Vater, tiefliegend und dunkel, vielleicht sogar schwarz, das konnte ich bei der ungünstigen Beleuchtung nicht erkennen.
Was immer die Eltern ihr sonst noch mitgegeben hatten – äußere und innere Eigenschaften, die ich niemals kennenlernen würde –, sie hatten sie mit außergewöhnlicher Schönheit ausgestattet, die im Kontrast von weißer Haut und rotem Haar zu den dunklen Augen lag – eine zweifellos ungewöhnliche Kombination.
Sie war schöner, als ich je gewesen war. Ich hatte in meiner Jugend ein ganz hübsches Gesicht, jetzt, da ich in den Vierzigern bin, ist es gewöhnlicher geworden. Früher, als Studentin, habe ich mein Haar auch lang getragen, heute bevorzuge ich einen praktischen Kurzhaarschnitt.
Gerade weil sie von Natur aus so schön war, wunderte es mich, daß sie völlig ungeschminkt war und ihr Haar streng zurückgenommen in einem Pferdeschwanz trug, als wollte sie ihre Schönheit nur ja nicht zur Schau stellen. Wachsam saß sie auf dem Bett. Ich war mir ziemlich sicher, daß sie wußte, wer ich war, auch wenn wir einander nie begegnet waren.
Sie hatte mir den einzigen Stuhl im Zimmer angeboten. Das Paket, das ich mitgebracht hatte, lag unbequem und schwer auf meinem Schoß. Sein Gewicht drückte mich seit Jahren, und ich war einen weiten Weg gefahren, um es endlich loszuwerden.
»Ich danke Ihnen, daß Sie sich die Zeit genommen haben«, sagte ich und empfand plötzlich sehr stark den Altersunterschied zwischen uns. Sie war neunzehn, ich sechsundvierzig. Ich bedauerte, den goldenen Schmuck und den teuren Wollmantel angelegt zu haben, aber ich wußte auch, daß uns mehr trennte als Alter und Geld.
Um einen neuen Anfang zu versuchen, sagte ich: »Ich habe gelesen, daß Ihre Mutter …«, aber sie schüttelte hastig den Kopf – ein Zeichen für mich, nicht weiterzusprechen.
»Ich weiß seit Jahren von Ihnen«, sagte sie zögernd und leise, »aber ich hätte nicht gedacht …«
Ich wartete, aber sie vollendete den Satz nicht. Schließlich brach ich das Schweigen.
»Ich habe vor langer Zeit einen Artikel über Ihre Mutter geschrieben. Sie waren damals noch sehr klein.«
Sie nickte.
»Sie wissen von dem Artikel?«
»Ja, ich weiß davon«, antwortete sie unbeteiligt. »Arbeiten Sie noch bei der Zeitschrift?«
»Nein«, sagte ich. »Die gibt es nicht mehr.«
Ich hätte hinzufügen können, daß die Zeitschrift nicht mehr existierte, weil sie einen ungeheuren Aufwand betrieben hatte: Autoren, die in New York stationiert waren, reisten in alle Welt, um zu berichten und ihre weitschweifigen Artikel über die aktuellen Ereignisse der Woche zu liefern. Die Zeitschrift hatte keine Auslandskorrespondenten eingesetzt, wie das erfolgreiche Nachrichtenmagazine heute tun, sondern seine eigenen Autoren an die jeweiligen Schauplätze entsandt. An den phantastischen Spesenrechnungen war die Zeitschrift 1979 schließlich eingegangen. Aber da war ich schon weg gewesen.
Aus dem Korridor vor ihrer Tür hörte ich Gelächter, dann einen Ruf. Die junge Frau sah kurz auf, dann richtete sie ihren Blick wieder auf mich.
»Ich habe ein Seminar«, bemerkte sie.
Für mich stand inzwischen fest, daß ihre Augen, wenn auch dunkel, doch nicht ganz die ihres Vaters waren. Seine waren undurchdringlich gewesen, ihre hingegen waren, wenn auch von einem tiefen Ernst, den ich bei einer Neunzehnjährigen kaum für möglich gehalten hätte, klar und offen.
Es hätte mich interessiert, ob sie einen Freund hatte oder Freundinnen, ob sie Sport trieb, eine gute Studentin war, ob auch sie Tagebuch führte, die Begabung ihrer Mutter oder ihres Vaters geerbt hatte.
»Das gehört Ihnen«, sagte ich mit einer Geste zu dem Paket.
Sie warf einen Blick darauf.
»Was ist das?«
»Das ist das Material, das ich benutzt habe, um den Artikel zu schreiben. Aufzeichnungen, Protokolle und all das.«
»Ah«, sagte sie. Und dann: »Warum?«
Eine Pause trat ein.
»Warum jetzt? Warum
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