Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)
Helen Scofield
An: Edward Hargreaves
Betreff: Die Maureen-English-Story
Datum: 2. August 1971
Ich denke, wir können die English-Story jetzt doch bringen und hätte gern grünes Licht von Ihnen. Sie werden sich erinnern, daß ich bei unserer letzten Besprechung vor ungefähr einem Monat fürchtete, wir würden sie streichen müssen, weil ich es nicht geschafft hatte, an Maureen English oder »Mary Amesbury«, wie sie sich jetzt nennt, heranzukommen. Ich war eigens nach Maine hinaufgefahren, um persönlich mit ihr zu sprechen. Zuerst war ich in St. Hilaire und habe dort mit verschiedenen Leuten aus dem Ort gesprochen, um Hintergrundmaterial zu sammeln. Dann bin ich nach South Windham weitergefahren, um Maureen aufzusuchen. Ich war ihr vorher nur einmal begegnet. Sie war schon nicht mehr bei der Zeitschrift, als ich dort anfing. Harrold kannte ich natürlich aus der Redaktion, aber nur rein beruflich.
Maureen war zwar bereit, sich mit mir zu treffen, aber reden wollte sie nicht. Ich habe wirklich alles versucht, um sie zum Reden zu bringen, aber sie war nicht bereit, sich zu öffnen. Am Ende konnte ich nur ziemlich enttäuscht wieder abfahren. Ich war sicher, den Stoff für eine tolle Story zu haben, aber ohne ihre Aussage war das Ganze einfach zu dünn.
Ich setzte mich an den Bericht über Juan Corona und versuchte, die English-Story zu vergessen. Bis ich letzte Woche ein Paket bekam. Es enthielt eine Folge von Aufzeichnungen, die von »Mary Amesbury« geschrieben sind, einige relativ kurz, andere relativ lang. Man könnte vielleicht sagen, es handelt sich um eine Art Tagebuch, das sie für sich selbst geschrieben hat, nur richtet sie in diesen Aufzeichnungen das Wort manchmal auch direkt an mich. Anscheinend haben sie damals der Kassettenrecorder oder meine Anwesenheit im Besucherraum abgeschreckt. Allein in ihrer Zelle jedoch war es ihr möglich, ihre Geschichte niederzuschreiben. Ich vermute, ich war für sie eine Erinnerung an ihr früheres Leben, und auch das hat sie wohl vor einem Gespräch zurückscheuen lassen.
Ich bin mir im Moment noch nicht im klaren darüber, was sie mir da eigentlich zugeschickt hat, ich glaube aber, daß das Material die wesentlichen Tatsachen enthält. Ich bin ziemlich sicher, daß ich damit und mit den Interviews, die ich bereits habe, die Story hinkriegen werde. Ich weiß, es entspricht nicht den Gepflogenheiten, aber ich würde es gern versuchen. Bisher habe ich nur ein Paket erhalten, aber sie schreibt, es würden weitere folgen.
Die Geschichte fasziniert mich. Ich weiß selbst nicht genau, warum, obwohl einige Gründe natürlich auf der Hand liegen. Sie hat etwas Starkes und Primitives, aber ich denke, wenn man mit Fingerspitzengefühl an sie herangeht, könnte ein großartiger Text daraus werden. Außerdem glaube ich nicht, daß die Medien sich mit den Fragen, um die es in dieser Geschichte geht, überhaupt schon einmal ernstlich befaßt haben. Das allein scheint mir Grund genug, sie anzugehen. Besonders interessant finde ich, daß ausgerechnet diese beiden in so etwas hineingeraten konnten. Wir waren doch alle wie vom Donner gerührt, als wir hörten, was sich da abgespielt hatte. Und hinzu kommt natürlich der »Insider«-Aspekt – die Tatsache, daß sie beide hier gearbeitet haben. Ich denke an ungefähr drei- bis vierhundert Zeilen, wenn Sie mir die geben können.
Ich muß noch hinzufügen, daß ich mit Jack Strout nicht reden konnte. Er hat jedes Gespräch mit mir abgelehnt. Aber ich denke, die Story läßt sich auch ohne ein Interview mit ihm machen.
Lassen Sie mich wissen, was Sie von meinem Vorschlag halten. Ich würde gern sofort anfangen.
3./4. Dezember 1970
Mary Amesbury
Ich fuhr Richtung Nordosten. Weiter östlich ging gar nicht. Ich hatte ein Bild vor Augen, das mir Kraft gab – bis zum äußersten Rand fahren und dann springen. Aber es war nur ein Bild, kein Plan. Zum Ende der Straße hin standen vereinzelte Häuser, alt und verwittert, mit blätterndem Anstrich. Ihre spitzen Giebeldächer ragten mit stolzer Würde in die Höhe, manche der rechtwinklig angebauten Seitenflügel wirkten gedrückt und windschief. Vor diesen schönen Häusern befanden sich allerhand Dinge, die gebraucht wurden oder darauf warteten, wieder gebraucht zu werden: ein aufgebockter Zweitwagen, eine silbern glänzende Rolle Isoliermaterial, ein rostiger Pflug vom Vorderteil eines Pick-up, der wie eine Zufallsskulptur auf verschneitem Rasen lag. Die neuen Häuser waren nicht
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