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Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Titel: Gefesselt in Seide: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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saß.
    Und obwohl ich längst wußte, daß diese von Fenstern umrahmten Familienidylle so trügerisch waren wie retuschierte Fotografien (niemals sah ich auf diesen Wegen meiner Kindheit einen Mann, der seine Frau oder ein Kind schlug, niemals eine Frau, die in der Küche stand und weinte), dachte ich beim Anblick der Häuser am Park: Wenn ich jetzt in einem dieser Häuser wäre, würde ich bei einem Glas Wein in der Küche sitzen und mir mit halbem Ohr die Abendnachrichten anhören. Caroline säße in einem Hochstuhl mit am Tisch. Ich würde meinen Mann kommen hören, zusehen, wie er den Schnee von seinen Stiefeln stampft. Er wäre gerade zu Fuß von – (ja, von wo wäre er gekommen? Ich sah die Straße hinunter. Von dem Gebäude am Kai? Der Bibliothek? Dem Gemischtwarenladen?) Er würde kurz in die Hocke gehen, um eine honigfarbene Katze zu streicheln, sich über das Kind beugen, um es zu küssen, sich ein Glas Wein einschenken und mir den Arm um die Schultern legen, während er den ersten Schluck tränke …
    Ich hielt inne. Dieses Bild voll gefährlicher Lügen war nichts als eine Seifenblase. Im Rückspiegel warf ich einen Blick auf mein Gesicht und wandte mich hastig ab. Ich setzte eine Riesensonnenbrille auf, um meine Augen zu verstecken. Ich legte mir meinen Schal um den Kopf und zog ihn bis über das Kinn hoch.
    Wieder sah ich zu den schlichten weißen Häusern am Park hinüber. Auf den Veranden lag Schnee. Ich bin das Gegenteil von einer Siedlerin, dachte ich.
    Ich weiß, es wird Sie überraschen, von mir zu hören. Ich war sehr ungezogen zu Ihnen, als Sie hier waren. Vielleicht war der Kassettenrecorder schuld – dieser aufdringliche schwarze Apparat auf dem Tisch zwischen uns. Ich habe Kassettenrecorder nie gemocht. Sie sind abschreckend wie Lügendetektoren. Ich habe immer nur mit Block und Bleistift gearbeitet, und manchmal hat sogar das die Leute nervös gemacht. Immer schauten sie nur auf das Geschriebene, nie sahen sie einem ins Gesicht oder in die Augen.
    Vielleicht war es aber auch Ihre Anwesenheit in diesem sterilen, unpersönlichen Besucherraum. Sie haben mich an Harrold erinnert. Er saß auch manchmal so da wie Sie gestern, mit übereinandergeschlagenen Beinen und ausdruckslosem Gesicht, trommelte dabei mit dem Bleistift auf den Tisch, ganz gedämpft nur, wie mit einer Bürste auf eine Schnarrtrommel.
    Aber Sie sind nicht wie Harrold, nicht wahr? Sie sind einfach eine Reporterin wie ich mal eine war, die sich bemüht, gute Arbeit zu machen.
    Möglicherweise war es ja auch einfach die Situation an sich. Ich weiß nur zu gut, wie so ein Interview abläuft. Sie hätten mich während des Gesprächs scheinbar aufmerksam angesehen, aber ich hätte die ganze Zeit gewußt, daß Sie nur auf Ihren Aufmacher scharf sind und auf mögliche Zitate warten. Ich hätte es Ihnen am Gesicht angesehen. Sie wären überhaupt nicht fähig gewesen, locker zu lassen, solange Sie nicht Ihre Story gehabt, den Knackpunkt gesehen hätten. Sie hätten auf eine Titelgeschichte gehofft, über ihre Länge nachgedacht. Und ich hätte gewußt, daß Sie eine andere Geschichte schreiben würden als die, die ich Ihnen erzählt hatte. Genau wie die Geschichte, die ich Ihnen jetzt erzählen werde, eine andere sein wird als die, die ich meinem Anwalt und dem Gericht erzählt habe, oder die, die ich eines Tages meiner Tochter erzählen werde.
    Meiner Kleinen, meiner Waise, meinem süßen Kind …
    Ich habe den Namen Mary angenommen, wie eine Nonne, aber nicht in Unschuld wie eine Nonne, doch das wissen Sie ja bereits. Genauso wie Sie wissen, daß ich jetzt sechsundzwanzig Jahre alt bin. Sie werden die Zeitungsausschnitte gesehen, die Akten gelesen haben.
    Sie werden mich in Ihrem Bericht beschreiben. Ich wollte, Sie müßten das nicht tun, denn ich kann nicht umhin, mich so zu sehen, wie Sie mich am Tag Ihres Besuchs bei mir gesehen haben. Sie werden schreiben, daß ich älter aussehe als ich bin, daß meine Haut weiß ist, allzu fahl, wie die eines Menschen, der wochenlang die Sonne nicht gesehen hat. Und Sie werden meinen Körper beschreiben, formlos jetzt in diesem Anstaltsoverall, und nur zwei oder drei Menschen, die Ihren Text lesen, werden wissen, wie er einmal war. Ich glaube nicht, daß je wieder ein Mann meinen Körper sehen wird. Aber das ist jetzt ohne Bedeutung.
    Ich weiß, Sie werden sich fragen, wieso ich mich entschlossen habe, Ihnen zu schreiben, meine Geschichte nun doch zu erzählen. Ich habe mir diese Frage auch

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