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Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Titel: Gefesselt in Seide: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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schön – rosarote und hellblaue Schandflecken am Hügelhang –, aber man sah schon im Vorüberfahren (an den Snowmobilen und Kombis), daß in ihnen eine jüngere, wohlhabendere Generation lebte. In diesen Häusern gab es gewiß auch modernere Heizungen und Küchen.
    Das Dorf, das ich mir ausgesucht hatte, lag am Ende der Straße. Wie ein Wegweiser im Sturm tauchte es vor mir auf. Es hatte einen kleinen Gemeindepark, einen Hafen und eine weiße Holzkirche. Außerdem gab es einen Gemischtwarenladen, ein Postamt und eine Bibliothek, die in einem Steinhaus untergebracht war. Am Ostrand des Parks standen vier große weiße Häuser in unterschiedlichen Stadien des Verfalls. Im Hafen lagen die Kutter der Hummerfischer, und am Ende eines Kais sah ich ein niedriges, kommerziell wirkendes Betongebäude. Es war mir sympathisch, daß der Kern des Dorfs mit einem Blick zu erfassen war.
    Ich parkte gegenüber dem Laden. Auf dem Schild stand über einem Pepsi-Logo »Shedd«. Im Fenster hing eine Liste: Gummistiefel, Heidelbeerrechen, Ahornsirup, Zeitschriften, Bootszubehör. Rechts davon hing ein Plakat – verblaßtes Relikt irgendeiner Kommunalwahl: »Wählen Sie Rowley«. Ein junger Bursche in einem blauen Pick-up, der vor der Mobil-Zapfsäule vor dem Laden stand, hob einen Pappbecher mit Kaffee zum Mund, blies hinein und sah mich an. Ich wandte mich ab und legte die Hand auf die Karte, die ordentlich gefaltet auf dem Mitfahrersitz lag. Ich drückte den Finger auf den kleinen Punkt. Wenn ich mich nicht täuschte, befand ich mich in einem Ort namens St. Hilaire.
    Die kleine Grünanlage zu meiner Rechten war schneebedeckt. Das Licht der nachmittäglichen Dezembersonne warf einen rosigen Schimmer über die weiße Fläche. Hinter dem Kirchturm am Ende des Parks durchschnitt ein roter Streifen den Himmel zwischen dem Horizont und einer sich lichtenden Wolkendecke. Das feuerrote Licht traf die Fensterscheiben auf der Ostseite des Parks und verlieh den Häusern flüchtigen Glanz, fast eine winterliche Pracht. Seltsam häßlich nahm sich dagegen das elektrisch erleuchtete Kreuz mit den blauen Glühbirnen aus, das über dem Holzportal der Kirche hing.
    Der Schneesturm war vorüber und zog jetzt weiter nach Osten, zum Meer hinaus. Die Straße vor dem Laden war geräumt, aber der Gehweg nicht. Ich hatte das Gefühl, die Kälte sehen zu können.
    Ich breitete die Karte auf dem Sitz aus, der Staat Maine kroch an der Rückenlehne hoch. Mit dem Finger zog ich die Strecke nach, die ich gefahren war: von meinem Parkplatz an der Ecke 80. Straße und West End den Henry Hudson Drive hinauf aus New York hinaus, über die Park-ways zu den Highways, auf den Highways quer durch die Staaten und schließlich nach Nordosten zur Küste von Maine. In zehn Stunden hatte ich fast achthundert Kilometer zwischen mich und die Stadt gelegt. Das wird reichen, dachte ich. Es muß reichen.
    Ich drehte mich herum, um nach meiner Kleinen zu sehen. Sie schlief in der Tragetasche auf dem Rücksitz. Ich betrachtete ihr kleines Gesichtchen – die hellen Wimpern, das feine rötliche Haar, das sich um den Rand der Wollmütze ringelte, die runden Wangen. Nicht einmal in diesem Moment konnte ich dem Verlangen widerstehen, sie zu streicheln, und Caroline regte sich ein wenig in ihren Träumen.
    Die stickige Wärme der Autoheizung ließ nach. Ich spürte die Kälte an meinen Beinen und zog den Wollmantel fester um mich. Der Horizont schien in Flammen zu stehen. Graue Wolkenwirbel über der untergehenden Sonne sahen aus wie Rauch, der von einem Feuer aufstieg. In den Häusern am Park gingen eines nach dem anderen die Lichter an, und drinnen, in Shedds Laden, schaltete jemand wie zu einer Einladung eine Lampe ein.
    Ich lehnte mich zurück und sah zu den Häusern hinüber. Die vorderen Fenster waren hohe Rechtecke mit gewellt erscheinenden Scheiben. Sie erinnerten mich an die Fenster, in die ich als Kind so gern hineingespäht hatte, wenn ich abends bei Dunkelheit nach Hause gegangen war. Im dunkel umrahmten Schein warmen gelben Lichts hatte ich häusliche Rituale beobachten können, die bei Tag verborgen blieben: Menschen beim Essen oder bei den Vorbereitungen für das Abendessen, eine Familie bei Tisch, eine Frau in der Küche. Und ich stand draußen im Dunkeln und schaute hinein und konnte mich kaum sattsehen an diesen Szenen. Ich pflegte mir vorzustellen, ich wäre Teil dieser Bilder – ein Kind am Eßtisch, ein kleines Mädchen, das mit seinem Vater am offenen Kamin

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