Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)
hatte. Und morgen konnte ich dann in meine Wohnung und an meine Arbeit zurückkehren.
»Glauben Sie, daß meine Mutter die Wahrheit gesagt hat?« fragte sie.
Ich hielt mitten in der Bewegung inne, den Mantel halb übergezogen. Caroline hatte mir den Rücken zugekehrt und schaute zum Fenster hinaus. Aber draußen war es stockdunkel, das einzige, was man sehen konnte, waren unsere Spiegelbilder.
»Wie meinen Sie das?« fragte ich verwirrt. »Meinen Sie, ob Ihre Mutter in ihren Aufzeichnungen die Wahrheit geschrieben hat?«
»Ja.« Sie drehte sich zu mir herum. »Kann es nicht sein, daß sie ihre eigene Geschichte ein bißchen retuschiert hat, hier und dort ein Zitat geändert, dies oder jenes übertrieben oder verändert hat, um besser dazustehen?«
Die Frage lag wie ein bodenloser Abgrund zwischen uns. Ein Abgrund, in dem sich Geschichte und Erzähler in stetiger Verkleinerung endlos wiederholten, wie die Bilder in zwei gegenüberliegenden Spiegeln.
Wer kann je wissen, wo eine Geschichte angefangen hat, hätte ich gern gesagt. Wo in einer Geschichte wie der von Mary Amesbury die Wahrheit liegt.
Dann kam mir plötzlich der Gedanke, daß sie vielleicht an ihren Vater dachte, daß sie ihn vielleicht in einem besseren Licht sehen wollte.
»Ich weiß es nicht«, sagte ich.
Draußen läutete eine Glocke. Die Glocke der Kirche, die zum Campus gehörte, vermutete ich. Ich zählte elf Schläge.
Sie schien mit den Achseln zu zucken, nicht zufrieden mit meiner Antwort. Ich schob meinen anderen Arm in den Mantel.
»Ich bin im Holiday Inn , wenn Sie noch Fragen haben«, sagte ich. »Ich fahre erst morgen vormittag. Und Sie können mich jederzeit zu Hause erreichen. Meine Adresse und meine Telefonnummer stehen auf dem Scheck.«
»Ich habe keine Fragen mehr«, versetzte sie.
»Schön, dann wünsche ich Ihnen alles Gute«, sagte ich.
Ich wandte mich zum Gehen.
Ich hatte die Hand an der Tür.
»Vergessen Sie das hier nicht«, sagte sie hinter mir.
Als ich mich herumdrehte, sah ich, daß sie mir den Stapel Papiere hinhielt.
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Das ist für Sie. Ich habe es für Sie mitgebracht.«
Ich war mir bewußt, daß ich vor ihr zurückgewichen war. Zu meiner Verlegenheit hatte ich tatsächlich die Arme vor mir ausgestreckt, als wollte ich sie abwehren.
Sie kam einen Schritt näher. »Es gehört mir nicht«, sagte sie. »Es gehört Ihnen.«
Ich schüttelte wieder den Kopf, aber sie drückte mir den ordentlichen Stapel Papiere einfach in die Hände, wie zum Abschied.
»Julia ist vor einem Jahr gestorben«, sagte sie. »Und Everett führt immer noch seinen Laden.«
Ich ging durch den langen Korridor zur Treppe. Hinter manchen Türen hörte ich Stimmen und Musik. Draußen, auf der Steintreppe vor dem Wohnheim, sah ich, daß es wieder zu schneien begonnen hatte. Mit der freien Hand versuchte ich mir den Schal über den Kopf zu ziehen. Der Papierstapel fiel mir herunter. Die Blätter flatterten die nassen Stufen hinunter.
Vielleicht dachte ich in diesem Moment an die Worte meines Vaters, der mir einmal gesagt hatte, daß die Story immer schon da ist, bevor man von ihr gehört hat, und daß der Reporter einzig die Aufgabe hat, ihre Form zu finden. Aber als ich den Aktenkoffer absetzte und mich anschickte, die schon durchweichten Blätter einzusammeln, sah ich, daß sie heillos durcheinandergeraten waren.
In der Dunkelheit bestand keine Hoffnung, sie wieder zu ordnen.
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