Gefrorene Seelen
»Fehlanzeige bei Alan Troy. Keine Eintragungen, weder hier in der Provinz noch landesweit.«
Cardinal las McLeods Bericht über die Vernehmung in dem Musikgeschäft vor einem halben Jahr. Der Bericht, einzeilig geschrieben, füllte eine Seite. Im ersten Absatz wurde die Position der beiden Männer dargelegt – Troy war der Eigentümer, Sutherland der stellvertretende Geschäftsführer –, und wie lange sie schon zusammenarbeiteten. Troy hatte seit über fünfundzwanzig Jahren das Musikgeschäft an verschiedenen Standorten in der Stadt betrieben. Sutherland arbeitete seit zehn Jahren bei ihm und war kurz vor dem Umzug des Geschäfts in die Mall zu ihm gestoßen.
Im zweiten Absatz ging es um Billy LaBelle. Beide Männer kannten ihn und zeigten sich über sein Verschwinden besorgt. Sutherland war derjenige, der Unterricht gab. Der Junge sei wie gewöhnlich zur Gitarrenstunde am Mittwochabend gekommen und wieder gegangen, ohne dass irgendetwas Besonderes geschehen wäre. Am Abend darauf verschwand Billy LaBelle vom Parkplatz der Algonquin Mall.
Cardinal sah durch das Fenster des Sitzungsraums hinaus auf den Parkplatz, wo sich Matsch und Schnee wie schmutziges Schaumgebäck auftürmten. In den Pfützen spiegelte sich Sonnenlicht. Was war mit Katie Pine? Troy und Sutherland waren nicht nach Katie Pine gefragt worden; zwischen den beiden Fällen bestand damals noch keine Verbindung.
Delorme hielt ihm einen Computerausdruck hin. »Ich weiß nicht, wie Sie darüber denken, aber für mich ist Sutherland gerade an die Spitze der Verdächtigenhitparade gerückt.«
Cardinal nahm ihr den Computerausdruck aus der Hand. Carl Sutherland war vor zwei Jahren in Toronto wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet worden.
Cardinal schien es plötzlich, als bewege er sich, von einer unwiderstehlichen Kraft gezogen, durch die Bilder und Szenen eines Traums. Mit der neuen Erkenntnis über Sutherlands Vergangenheit wusste er, ohne dass es ihm jemand gesagt hätte und ohne es beweisen zu können, dass Katie Pine im Troy Music Centre gewesen war und Carl Sutherland getroffen hatte. Dann hatte sie der Erdboden verschluckt.
Als könne sie seine Gedanken lesen, sagte Delorme: »Wir müssen den Kreis schließen und die Verbindung zu Troy Music klären.«
Immer noch wie im Traum griff Cardinal zum Telefonhörer. Delorme beobachtete ihn, als wäre auch sie nun Teil dieses Traumes, und biss sich auf die Lippen.
»Mrs. Pine, hier spricht John Cardinal.« Er hatte immer gehofft, Dorothy Pine bei ihrem nächsten Gespräch die Nachricht zu bringen, dass der Mörder ihrer Tochter hinter Schloss und Riegel saß. »Erinnern Sie sich noch, dass Sie mir einmal gesagt haben, Katie wolle in der Schulband mitspielen?«
Ihre tonlose Stimme war kaum zu hören. »Ja. Ich weiß auch nicht, warum sie das unbedingt wollte.«
Dann verstummte Dorothy vollkommen, so dass Cardinal schon dachte, die Verbindung sei unterbrochen worden. »Sind Sie noch dran?«
»Ja.«
»Mrs. Pine, hat Katie jemals privaten Musikunterricht gehabt?«
»Nein.« Das hatte sie ihm schon gesagt; auch McLeod. Aber Dorothy Pine war nicht die Frau, die sich beklagte.
»Hat sie nie Klavier- oder Gitarrenstunden genommen?«
»Nein.«
»Aber trotzdem wollte sie in der Band sein. Sie hatte ein Fotoder Schulband auf der Innenseite ihrer Schranktür, obwohl sie nicht dazugehörte.«
»Stimmt.«
»Mrs. Pine, ich verstehe nicht, warum sich Katie so viel aus Musik machte, wenn sie selbst gar kein Instrument spielte. Sie war verrückt nach der Band, und sie trug ein Armband mit Anhängern in Form von Musikinstrumenten.«
»Ich weiß. Sie hat es irgendwo in einem Musikgeschäft gekauft.«
Das war es wieder – der Traum ging weiter. Er riss Cardinal und Katies Mutter mit sich fort, spülte die Worte heran, die sie gleich sagen würde. Sie kamen durch die Telefonleitung, noch bevor er die Frage gestellt hatte. »In welchem Musikgeschäft hat sie es gekauft, Mrs. Pine. Können Sie sich an den Namen erinnern? Es ist sehr wichtig.«
»Nein.«
Die Worte würden noch kommen. Dorothy Pine musste sie aussprechen. Sie musste ihm den Namen des Geschäfts sagen, und er würde Troy Music Centre lauten – und damit hätten sie ihren Mann. Cardinal spürte eine Brise aus dem Telefon, wie der Wind, der heranwirbelt, ehe ein Zug in den Bahnhof einfährt.
»Den Namen weiß ich nicht«, sagte Dorothy Pine. »Das Geschäft in dem Einkaufszentrum da draußen.«
»Welches Einkaufszentrum, Mrs.
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