Gefrorene Seelen
das kalte Licht der Wintersonne.
48
D elorme legte eine Plastiktüte auf dem Computer ab. Etwas Metallisches schimmerte durch das Plastik.
Cardinal blickte auf. »Was ist das?«
»Katie Pines Armband. Es kam mit ihren Kleidern aus der Gerichtsmedizin. Keine Fingerabdrücke außer ihren eigenen. Kommen Sie rüber ins Museum?«
»Museum der ungelösten Kriminalfälle« war Delormes Bezeichnung für den Konferenzraum, der nun ganz von dem Material des Falls Pine-Curry in Beschlag genommen war. Das Armband würde seinen Platz finden neben der Tonkassette, den Fingerabdrücken, den Haar- und Stoffresten, der ballistischen Analyse und den gerichtsmedizinischen Berichten – ein stetig wachsender Katalog von Spuren, die nirgends hinführten.
»Ich brauche noch ein paar Minuten«, sagte Cardinal. »Ich muss das hier noch fertig machen.«
»Ich dachte, Sie schreiben Ihre Beiakten immer nachts.«
»Das ist keine Beiakte.«
Von dort, wo Delorme stand, konnte sie zwar seinen Bildschirm sehen, aber Cardinal war sich ziemlich sicher, dass sie das Geschriebene nicht lesen konnte. Und wenn da ein Anflug von Verdacht in ihren Augen war, nun gut, dann sollte sie sich eben Fragen stellen. Während Delorme zögerlich das Büro verließ, las er noch einmal den Absatz, den er zuletzt geschrieben hatte.
Ich bin zu der Einsicht gekommen, dass wegen meiner Vergangenheit meine weitere Mitarbeit am Fall Pine-Curry ein Risiko für den Ausgang einer künftigen Gerichtsverhandlung darstellt. Ich sehe mich daher genötigt
…
Ich sehe mich daher genötigt, aus diesem und allen anderen Fällen auszusteigen, weil die Aussage eines überführten Diebs vor Gericht nicht viel Gewicht hat. Ich bin das schwache Glied in der Kette; je eher ich aussteige, desto besser. Zum hundertstenMal fragte er sich, wie er es Catherine beibringen würde, zum hundertsten Mal stellte er sich vor, wie sich ihr Gesicht vor Sorge nicht um sie selbst, sondern um ihn auflösen würde.
Er hatte bereits eine knappe Darstellung des Geschehens gegeben, in das er schuldhaft verwickelt war. Es war im letzten Jahr seiner Zeit bei der Kriminalpolizei von Toronto passiert. Sie hatten eine Razzia im Haus eines Drogenhändlers gemacht – Rick Bouchards Verteilungszentrum für den Norden Ontarios. Während die anderen Beamten vom Rauschgiftdezernat Gangster wie Kiki B. und Bouchard vorschriftsgemäß über ihre Rechte aufklärten, hatte Cardinal das Geld in einem Geheimfach des Schlafzimmerschranks gefunden. Zu seiner immerwährenden Schande hatte er sich mit zweihunderttausend Dollar davongemacht; die übrigen fünfhunderttausend wurden als Beweis vor Gericht verwendet. Die Tatverdächtigen, so fügte er hinzu, wurden in allen Anklagepunkten für schuldig befunden.
Zu meiner Verteidigung kann ich lediglich vorbringen
… Aber für Cardinals Empfinden gab es nichts, was ihn hätte entlasten können. Er nahm die Tüte vom Computer. Da gibt es nichts zu entschuldigen, sagte er zu sich selbst und ließ die kleinen Anhänger zwischen Daumen und Zeigefinger gleiten, als wären es die Perlen eines Rosenkranzes: eine winzige Trompete, eine Harfe, eine Geige.
Zu meiner Verteidigung kann ich lediglich vorbringen, dass die Erkrankung meiner Frau mich so sehr erschüttert hatte, dass
… Nein. Er konnte sich nicht hinter den Schmerzen des Menschen verstecken, dem er am meisten Unrecht getan hatte. Er löschte den Satz und schrieb stattdessen:
Dafür gibt es keine Entschuldigung
.
Um Gottes willen, überhaupt keine mildernden Umstände? Nichts, was sein Bild als Gangster in Uniform korrigieren könnte?
Kein Dollar des gestohlenen Geldes war für mich
, schrieb er und löschte es sofort wieder.
Es war während Catherines erstem Klinikaufenthalt geschehen. Cardinal war damals noch Junior Detective im Rauschgiftdezernatvon Toronto und hatte miterleben müssen, wie sich seine Frau im Griff der seelischen Erkrankung nach und nach in eine Person verwandelte, die er nicht mehr wiedererkannte: dumpf, apathisch und depressiv bis zur Stummheit. Es hatte ihn in Angst und Schrecken versetzt, denn er wusste, dass er nicht stark genug war, um mit diesem allseits reduzierten Wesen zusammenzuleben, das nun die Stelle der klugen, vergnügten Frau eingenommen hatte, die er so liebte. Angst und Schrecken befielen ihn, weil er damals nichts von psychischen Krankheiten wusste, geschweige denn, was es bedeutete, ein zehnjähriges Mädchen allein zu erziehen.
Durch das Plastik hindurch fuhr er mit den
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