Gefrorene Seelen
Fingern die Konturen einer winzigen Gitarre entlang.
Catherine war zwei Monate lang im Clarke Institute zur Behandlung geblieben. Zwei Monate mit Menschen, die so verwirrt waren, dass sie nicht einmal ihren Namen schreiben konnten. Zwei Monate, in denen die Ärzte alle möglichen Kombinationen von Medikamenten ausprobierten, die alles nur noch schlimmer zu machen schienen. Zwei Monate, während derer sie ihren Mann nur hin und wieder deutlich erkannte. Nach langem inneren Kampf entschloss sich Cardinal schließlich, Kelly zu einem Besuch in der Klinik mitzunehmen, was sich als Fehlschlag auf der ganzen Linie herausstellte. Catherine ertrug es nicht, ihre Tochter zu sehen, und das kleine Mädchen brauchte lange, um darüber hinwegzukommen.
Dann waren Catherines Eltern aus Minnesota zu Besuch gekommen und waren entsetzt beim Anblick der trübseligen, pandaäugigen Gestalt, die ihnen durch den Krankenhauskorridor entgegengeschlurft kam. Obgleich sie zu Cardinal immer höflich waren, spürte dieser doch die bohrenden Blicke in seinem Rücken: Irgendwie war er schuld an Catherines Zusammenbruch. Sie begannen vom amerikanischen Gesundheitswesen zu schwärmen (»Das beste der Welt. Auch in der Forschung Spitze. Brillante Psychiater. Wer sonst schreibt all die Bücher?«), und was siedamit sagen wollten, war klar: Wenn es Cardinal wirklich um die Gesundung ihrer Tochter ging, dann würde er sich bemühen, Catherine zur Behandlung in eine Klinik südlich der Grenze zu schaffen.
Cardinal hatte nachgegeben. Noch heute, zehn Jahre später, ärgerte es ihn maßlos, da er bereits damals wusste, dass die Behandlung in den Vereinigten Staaten keineswegs besser sein würde. Er wusste, dass man dort auf die gleichen Medikamente setzte, die gleiche Begeisterung für Schocktherapie an den Tag legte und die gleichen Misserfolge erntete. Und dennoch hatte er klein beigegeben. Er konnte es nicht ertragen, dass Catherines Eltern denken könnten, er tue nicht alles für ihre Tochter. (»Wir wissen, dass die Arzthonorare ziemlich hoch sind. Aber keine Sorge, wir beteiligen uns an den Kosten.«) Aber viel konnten sie eben doch nicht beitragen, und die Rechnungen von der Chicagoer Tamarind Clinic gingen rasch in die Tausende und über die Monate sogar in die Zehntausende von Dollar.
Binnen Wochen war Cardinal klar geworden, dass er die Rechnungen nicht bezahlen konnte; Catherine und er würden niemals ein eigenes Haus haben, niemals aus den Schulden herauskommen. Und so kam es, dass er, als sich die Gelegenheit bot, das Geld an sich nahm. Damit hatte er die Rechnungen bezahlt, und selbst dann blieb noch genügend für Kellys teure Ausbildung übrig. Das Problem war nur, dass er nach dem Überschreiten dieser moralischen Schranke merkte, dass sein wahres Ich auf der anderen Seite geblieben war.
Es gibt keine Entschuldigung dafür
, schrieb er. Jeder Penny dieses Geldes kam mir zugute, half mir, vor meinen Schwiegereltern das Gesicht zu wahren und mir die Liebe und Achtung der von mir verhätschelten Tochter zu erkaufen.
In erster Linie kommt es nun darauf an, die Ermittlungen im Fall Pine-Curry ohne Gefahr für die Glaubwürdigkeit der Polizei fortzusetzen
.
Er schrieb, dass es ihm leid tue, versuchte, zu einer klareren Aussage zu kommen, und stellte fest, dass er es nicht konnte.Dann druckte er den Brief aus, las ihn nochmals durch und unterschrieb ihn. Er adressierte den Umschlag an den Polizeichef Kendall, fügte noch »Vertraulich« hinzu und gab ihn in die Hauspost.
Eigentlich hatte er zu Delorme in den Sitzungsraum gehen wollen, doch plötzlich fühlte er sich erschöpft und ließ sich mit einem tiefen Seufzer in den Schreibtischsessel zurückfallen. Katie Pines Armband schimmerte undeutlich durch seinen Plastikkokon. Katie Pine, Katie Pine, wie gern hätte er ihr zu Gerechtigkeit verholfen, ehe er das Department verließ. Die Goldinstrumente – Geige, Posaune, kleine Trommel und Gitarre – wollten gar nicht zu ihr passen, jedenfalls nicht zu dem Bild, das er von ihr, dem Mathe-As Katie, hatte. Viel besser hätten sie zu Keith London gepasst. Karen Steen hatte berichtet, er habe eine Gitarre bei sich gehabt. Und Billy LaBelle hatte Unterricht im Troy Music Centre genommen, woran Cardinal gar nicht gedacht hätte, wäre da nicht die Tatsache gewesen, dass Billy LaBelle dort zuletzt lebend gesehen worden war.
»Und was ist mit Todd Curry?«, sagte Cardinal laut, obwohl er das gar nicht gewollt hatte.
»Reden Sie mit mir?«
Weitere Kostenlose Bücher