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Gefrorene Seelen

Gefrorene Seelen

Titel: Gefrorene Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giles Blunt
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Neffe. Sieht genauso gut aus wie sein Onkel.« Jerry Commanda wog zwar nur siebzig Kilo, sah aber tatsächlich gut aus.
    Die Jungen sprachen Ojibwa, so dass Cardinal, der nicht gerade ein Sprachkundiger war, keine Silbe verstand. »Was sagen sie?«
    »Sie sagen, er geht wie ein Bulle und wirft wie ein Mädchen, vielleicht ist er schwul.«
    »Das ist ja reizend.«
    »Mein Neffe sagt: ›Er kommt wahrscheinlich Jerry verhaften, weil der die blöde Farbe geklaut hat.‹« Jerry dolmetschte mit monotoner Stimme. »›Das ist doch der Bulle, der letzten Herbst hier war. Die Niete, die es nicht geschafft hat, Katie Pine zu finden.‹«
    »Jerry, du hast den falschen Beruf gewählt. Du hättest Dolmetscher werden sollen.« Später kam ihm der Gedanke, dass Jerry vielleicht gar nicht übersetzt hatte. Das hätte ihm ähnlich gesehen.
    Sie gingen um einen nagelneuen Kleinlaster herum und näherten sich dem Haus der Familie Pine.
    »Ich kenne Dorothy Pine ganz gut. Soll ich mit reinkommen?«
    Cardinal schüttelte den Kopf. »Aber wenn du später dazukommen könntest?«
    »Kann ich machen. Was sind das bloß für Menschen, die kleine Mädchen umbringen?«
    »Abartige, Gott sei Dank. Deshalb kriegen wir sie auch. Mörder sind anders als andere Menschen.« Cardinal wünschte, er wäre sich wirklich so sicher, wie er vorgab.
    *
    Dorothy Pine im vergangenen September nach dem Namen des Zahnarztes ihrer Tochter zu fragen – um sich Katies Karteikarte zu besorgen –, war Cardinal schwerer gefallen als alles, was er je hatte tun müssen. Dorothy Pines Gesicht, ihre groben Züge, die von den Narben einer schweren Akne entstellt waren, hatte keine Regung verraten. Er war ein Weißer, er vertrat das Gesetz. Warum sollte sie gerade ihm ihren Kummer zeigen?
    Bis dahin hatte sie nur hin und wieder mit der Polizei zu tun gehabt, wenn ihr Mann, ein an sich sanfter Charakter, der sie aber unbarmherzig schlug, wenn er betrunken war, wieder einmal verhaftet wurde. Kurz nach Katies zehntem Geburtstag war er zur Arbeitssuche nach Toronto gegangen. Statt Arbeit zu finden, war er in einer billigen Absteige in der Spadina Road in die Klinge eines Klappmessers gelaufen.
    Cardinals Finger zitterte ein wenig, als er den Klingelknopf drückte.
    Dorothy Pine, eine kleine Frau, die ihm kaum bis zur Taille reichte, öffnete, schaute zu ihm hinauf und wusste sofort, weswegen er gekommen war. Sie hatte keine anderen Kinder, also konnte es nur einen Grund geben.
    »Okay«, sagte sie, als er ihr mitteilte, dass Katies Leiche gefunden worden war. Sie sagte nur das eine Wort, »okay«, und wollte schon wieder die Tür schließen. Ihr einziges Kind war tot. Polizisten – womöglich noch weiße – hatten hier nichts mehr verloren.
    »Mrs. Pine, ich dachte, Sie hätten vielleicht ein paar Minuten Zeit für mich. Ich war ein paar Monate lang nicht mit dem Fall beschäftigt, deshalb muss ich mein Gedächtnis auffrischen.«
    »Wozu? Man hat sie doch jetzt gefunden.«
    »Ja, sicher. Aber nun wollen wir auch ihren Mörder fassen.«
    Hätte er das nicht erwähnt, so schien es ihm, wäre Dorothy Pine niemals auf die Idee gekommen, dass man den Mörder ihrer Tochter zur Strecke bringen müsse. Was für sie zählte, war allein der Tod ihrer Tochter. Sie fügte sich achselzuckend Cardinals Wunsch, trat beiseite und ließ ihn ins Haus.
    In der Diele roch es nach Speck. Obwohl es auf Mittag zuging, waren im Wohnzimmer die Vorhänge immer noch geschlossen. Elektrische Heizöfen hatten die Luft ausgetrocknet; ein paar welke Zimmerpflanzen standen auf einem Regal. Im Raum herrschte eine Dunkelheit wie in einem Mausoleum. Vor vier Monaten war der Tod in dieses Haus getreten, und seither hatte er es nicht verlassen.
    Dorothy Pine setzte sich auf einen runden Schemel vor dem Fernseher, wo gerade ein Zeichentrickfilm lief, in dem ein Kojote lärmend hinter einem Vogel herjagte. Sie ließ die Arme zwischen den Knien herabhängen, Tränen tropften auf den blanken Linoleumboden.
    Während der wochenlangen Suche nach dem Mädchen, bei den Hunderten von Gesprächen mit Klassenkameraden, Freunden und Lehrern, während der Tausende von Telefonaten und als Tausende von Handzetteln zu dem Fall verteilt wurden, hatte Cardinal im Stillen gehofft, Dorothy Pines Vertrauen zu gewinnen. Vergebens. In den ersten beiden Wochen rief sie täglich an, sagte nicht nur jedes Mal ihren Namen, sondern auch, weshalb sie anrief. »Ich wollte fragen, ob Sie meine Tochter gefunden haben, Katharine Pine.« So

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