Gefrorene Seelen
als ob Cardinal vergessen haben könnte, nach ihr zu suchen. Dann stellte sie ihre Anrufe ganz ein.
Cardinal nahm Katies Klassenfoto aus der Brieftasche. Nach diesem Foto hatte man das Fahndungsplakat gedruckt, das an Bushaltestellen, in Unfallstationen, Einkaufszentren und Tankstellen aushing: Haben Sie dieses Mädchen gesehen? Nun hatte der Mörder geantwortet: Oh ja, und ob ich dieses Mädchen kenne. Cardinal legte das Foto auf das Fernsehgerät.
»Darf ich mir noch einmal ihr Zimmer ansehen?«
Ein Wiegen des Kopfes, ein Beben der Schultern. Noch eine Träne auf dem Linoleumboden. Erst hat man ihr den Mann gemordet, und nun die Tochter. Von den Inuit heißt es, sie hätten vierzig verschiedene Wörter für Schnee. Nichts gegen Schnee, dachte Cardinal, aber was die Menschen wirklich brauchen, sindvierzig Wörter für Kummer. Schmerz, Leid, Gram. Es gab nicht genug Wörter, nicht für diese kinderlose Mutter in ihrem leeren Haus.
Cardinal ging durch einen kleinen Flur zu einem Schlafzimmer. Durch die offene Tür schaute ihm ein gelber, einäugiger Plüschbär auf dem Fensterbrett entgegen. Unter den abgewetzten Tatzen des Bären lag ein handgewebter Teppich mit einem Pferdemotiv. Dorothy Pine verkaufte solche Teppiche im Hudson-Bay-Laden in Lakeshore. Im Laden kostete so ein Teppich hundertzwanzig Dollar, aber er bezweifelte, dass Dorothy Pine viel davon sah. Draußen hörte man, wie sich eine Motorsäge durch Holz fraß, und irgendwo krächzte eine Krähe.
Unter dem Fensterbrett stand eine Kindertruhe. Cardinal machte sie auf und stellte fest, dass darin immer noch Katies Bücher lagen.
Black Beauty
, Pferdebücher, wie sie auch seine Tochter in dem Alter gern gelesen hatte. Warum glauben wir eigentlich, dass Indianer so anders als wir sind? Er zog die Schublade einer Kommode auf – Strümpfe und Unterwäsche lagen sauber gefaltet darin.
Auf der Kommode stand eine kleine Schachtel mit Modeschmuck. Wenn man sie öffnete, erklang eine Melodie. In der Schachtel lagen verschiedene Ringe und Ohrringe, dazu Armschmuck – ein Lederarmband und ein paar Perlenarmbänder. An dem Tag, als Katie verschwand, erinnerte sich Cardinal, trug sie ein Armband mit Anhängern. Im Spiegel über der Kommode steckte eine Reihe von vier, von einem Automaten aufgenommenen Fotos, die Katie und ihre beste Freundin zeigten, wie sie gerade Gesichter schnitten.
Cardinal bedauerte jetzt, dass er Delorme auf dem Revier gelassen hatte, wo sie den Gerichtsmedizinern Dampf machen sollte. Als Frau hätte sie vielleicht in Katies Zimmer etwas gesehen, was ihm entging.
Unten im Wandschrank lagen mehrere Paar Schuhe, darunter auch Lackschuhe mit Riemchen – hießen die Mary Janes? Cardinalhatte ein Paar für Kelly gekauft, als sie sieben oder acht war. Katie Pines Lackschuhe waren offensichtlich bei der Heilsarmee gekauft worden, der mit Kreide geschriebene Preis stand noch auf der Sohle. Laufschuhe waren nicht dabei; Katie hatte ihre Nikes am Tag, an dem sie verschwand, in einem Beutel in die Schule mitgenommen.
An der Innenseite der Schranktür hing das Bild einer Highschool-Band. Cardinal erinnerte sich nicht daran, dass Katie zur Band gehört hätte. Sie war ein Mathe-As. Sie hatte Algonquin Bay bei einem Mathematikwettbewerb auf Provinzebene vertreten und den zweiten Platz belegt. Die Medaille, die an der Wand hing, bewies es.
Er rief nach Dorothy Pine. Einen Augenblick später kam sie ins Zimmer, mit roten Augen, eine zerknüllte Kleenex-Schachtel in der Hand.
»Mrs. Pine, das Mädchen in der ersten Reihe auf dem Bild hier, das ist nicht Katie, oder?«
»Das ist Sue Couchie. Katie hat manchmal auf meinem Akkordeon herumgeklimpert, aber in der Band war sie nicht. Sue und sie waren dick befreundet.«
»Ja, ich erinnere mich. Ich habe sie in der Schule befragt. Sie sagte, sie hätten eigentlich nur Musikclips zusammen angesehen und ihre Lieblingssongs auf Video aufgenommen.«
»Sue kann ziemlich gut singen. Katie wollte ein bisschen wie sie sein.«
»Hat Katie jemals ein Instrument spielen gelernt?«
»Nein. Aber sie wäre gern in dieser Band gewesen.«
Sie blickten auf ein Bild ihrer Hoffnungen. Ein Zukunftsbild, das nun für immer bloße Phantasie bleiben würde.
7
N achdem Cardinal das Reservat wieder verlassen hatte, bog er links ab und fuhr in nördlicher Richtung zum Ontario Hospital. Fortschritte in der medikamentösen Behandlung verbunden mit staatlichen Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen hatten dazu geführt, dass ganze
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