Gefrorene Seelen
ihm einmal erzählt. »Als ob sich schwarze Gaswolken heranwälzen. Jede Hoffnung ist gestorben, jede Freude dahingerafft.«
Jede Freude ist dahingerafft
. Diese Worte würde er nie vergessen.
»Nimm’s nicht so schwer«, ermunterte er sie jetzt. »Catherine? Bitte, lass es langsam angehen.« Er legte ihr eine Hand aufs Knie, entlockte ihr damit aber nicht die leiseste Reaktion. Er wusste, dass ihr Denken jetzt in einem Wirbel von Selbstverachtung gefangen war. Sie hatte es ihm einmal erklärt. »Plötzlich kann ich nicht mehr atmen. Die Luft um mich herum ist aufgesogen, und ich fühle mich zermalmt. Und das Schlimmste daran ist das Wissen, was für eine Qual ich für die anderen bin. Ich hänge wie ein Mühlstein an dir und ziehe dich immer tiefer hinab. Du musst mich hassen. Ich hasse mich jedenfalls.«
Doch jetzt sagte sie gar nichts, verharrte regungslos und hielt den Kopf schmerzhaft weit nach vorn gebeugt.
Vor drei Wochen war Catherine noch heiter und gut gelaunt gewesen, wie es ihrem Charakter entsprach. Doch dann, wie so oftim Winter, steigerte sich ihre Fröhlichkeit schrittweise ins Wahnhafte. Sie sprach davon, nach Ottawa zu reisen, sie kannte bald kein anderes Gesprächsthema mehr. Plötzlich war es lebenswichtig, den Premierminister zu sprechen, sie musste das Parlament zur Vernunft bringen, sie musste den Politikern sagen, was zu tun war, um das Land, um Quebec zu retten. Durch nichts konnte man sie von dieser Idee abbringen. Es war das Erste, womit sie morgens beim Frühstück anfing, und es begleitete sie bis tief in die Nacht hinein. Cardinal fürchtete, selber verrückt zu werden. Dann nahm Catherines Denken eine interplanetarische Bahn. Sie begann von der NASA zu reden, von den frühen Entdeckern, von der Kolonisierung des Weltraums. Drei Nächte hintereinander blieb sie wach und schrieb Tagebuch. Als die Telefonrechnung kam, waren darin dreihundert Dollar Gebühren für Gespräche nach Ottawa und Houston, Texas, aufgeführt.
Am vierten Tag kam ihr Denken wie ein Flugzeug mit Motorschaden ins Trudeln und schmierte ab. Sie blieb eine Woche lang bei geschlossenen Vorhängen im Bett. Um drei Uhr morgens wachte Cardinal auf, weil sie ihn beim Namen rief. Er fand sie im Badezimmer auf dem Rand der Badewanne sitzend. Das Arzneischränkchen war offen, die Röhrchen mit Tabletten (von denen keine für sich allein genommen eine tödliche Wirkung hatte) lagen griffbereit. »Ich sollte doch lieber ins Krankenhaus gehen«, war alles, was sie sagte. Damals hatte Cardinal das für ein gutes Zeichen gehalten; nie zuvor hatte sie von sich aus um Hilfe gebeten.
Nun saß Cardinal neben seiner Frau in dem überheizten Lichtraum und war bedrückt von ihrer tiefen Trostlosigkeit. Eine Weile versuchte er noch, sie zum Sprechen zu bringen, doch sie blieb stumm. Er umarmte sie, doch es war, als hätte er ein Stück Holz im Arm. Ihr Haar hatte einen leichten Tiergeruch.
Eine Krankenschwester kam herein und brachte eine Tablette und einen Pappbecher mit Saft. Als Catherine auf ihr Zureden nicht reagierte, ging die Krankenschwester und kam mit einerSpritze wieder. Fünf Minuten später lag Catherine schlafend in den Armen ihres Mannes.
Die ersten Tage sind immer die schlimmsten, sagte sich Cardinal, als er wieder allein im Fahrstuhl war. In ein paar Tagen haben die Medikamente ihre Nerven so weit beruhigt, dass die Selbstverachtung, die sie jetzt noch im Griff hat, ein Ende nimmt. Wenn das eintritt, wird sie – ja was? – traurig und beschämt sein, aber wenigstens wird sie wieder in dieser Welt leben. Catherine war sein Kalifornien – sie war für ihn Sonnenschein, Wein und blaues Meer –, doch ein wahnhafter Zug lief mitten durch sie hindurch wie ein erdbebengefährdeter Graben, und Cardinal lebte ständig in der Furcht, dass eines Tages ihr gemeinsames Leben in einen Abgrund ohne Hoffnung auf Genesung gerissen werden könnte.
8
E rst am Sonntag kam Cardinal endlich zum Aktenstudium. Den ganzen Sonntagnachmittag verbrachte er mit einem Stapel Ordnern, die mit Pine, LaBelle und Fogle etikettiert waren.
In einer Stadt von fünfundfünfzigtausend Einwohnern ist ein vermisstes Kind das Thema Nummer eins, zwei vermisste Kinder sind eine Sensation. Dass einem der Chef oder die oberste Polizeibehörde auf den Hacken stand und der
Algonquin Lode
und das Regionalfernsehen ständig nach Neuem fragten, mochte ja noch angehen, aber nun hielt ihn die ganze Stadt auf Trab. Kaum arbeitete Cardinal wieder an dem Fall,
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