Gefrorene Seelen
Augen verliehen ihm etwas Seelenvolles, was ein romantisches Gemüt – und Delorme hielt sich nicht einen Augenblick lang auch nur für angekränkelt von romantischen Gefühlen – sehr anziehend finden könnte. Es hieß, er stehe treu und fest zu seiner Frau, trotz der schweren Depressionen, von denen sie immer wieder heimgesucht werde. Unter Kollegen wurde davon nur selten und in gedämpftem Ton gesprochen.
Sie hätte sich lieber einen anderen Abgang aus der Abteilung für Sonderermittlungen gewünscht als gerade diesen. Nun arbeitete sie an der Aufklärung eines Mordfalls und hatte gleichzeitig ihren Partner zu überprüfen. So gewann man keine Freunde oder machte Eindruck auf andere Menschen, aber das war auch nicht gerade das Motiv, wenn man sich bei den Sonderermittlern meldete.
John Cardinal schien ein geradliniger, unbestechlicher Polizist zu sein; es fiel schwer, die Bedenken, die Musgrave geäußert hatte, zu teilen. Vor Beginn der Trauerfeier hatte er noch freundlich mit dem alten Priester geplaudert, den Delorme für einen nicht ganz heimlichen Trinker hielt. Sie hätte in Cardinal nicht unbedingt einen Kirchgänger vermutet. Sie hatte ihn nie in St. Vincent gesehen, allerdings, was hätte er auch in einem französischsprachigen Gottesdienst zu suchen gehabt?
Tatsächlich kannte sie ihn ja auch kaum. Es lag in der Natur ihrer Arbeit, sich etwas abseits der übrigen Polizeitruppe zu halten. Und in ihrer Abteilung konnte man vor allem eines lernen: Jeder hat eine Geschichte, aber niemals die, die man erwartet. Deshalb legte sie jetzt die Akte Kyle Corbett und RCMP mitsamt den Gerüchten um Cardinals Zeit in Toronto im Geiste in eine Schublade und konzentrierte sich auf jene Bürger von Algonquin Bay, die es für geraten hielten, zur Beisetzung eines ermordeten Mädchens zu erscheinen.
Arsenault und Collingwood hielten draußen Trauergäste und Nummernschilder auf Video fest – ein Unterfangen rein auf Verdacht, denn bis jetzt kannte die Polizei weder verdächtige Personen noch Nummernschilder.
Angenommen, der Mörder ließe sich blicken, überlegte Delorme. Angenommen, er säße rechts von mir anstelle der weißhaarigen Dame im papageiengrünen Kostüm. Woran würde ich ihn erkennen? Am Geruch? An den Reißzähnen und dem langen Schwanz? Am Pferdefuß? Delorme hatte keine große Erfahrung mit Mördern, aber ihr war klar, dass es töricht wäre, zu erwarten, ein Mörder sähe anders aus als Cardinal oder der Bürgermeister oder der junge Mann von nebenan. Es könnte der grobschlächtige Mann in der »Maple Leaf«-Kluft sein – wer trug schon ein Eishockey-Sweatshirt bei einer Trauerfeier? Oder der Indianer im Arbeitsanzug mit dem Firmennamen auf dem Rücken – warum war er nicht bei der Gruppe, die Mrs. Pine in ihre Mitte genommen hatte? Sie erkannte mindestens drei ehemalige Klassenkameraden aus der Highschool; einer von ihnen könnte der Mörder sein. Sie erinnerte sich an Fotos aus Büchern über Serienkiller. Berkowitz, Bundy, Dahmer – allesamt unauffällige Männer. Nein, Katie Pines Mörder würde sicherlich anders sein als andere, aber nicht notwendigerweise anders aussehen.
Er sollte mir viel mehr Arbeit aufhalsen, dachte Delorme, während sie Cardinal betrachtete. Er sollte mich Tag und Nacht herumscheuchen, um auch noch der kleinsten Spur nachzugehen.Wir sollten den Gerichtsmedizinern die Hölle heiß machen, bis sie alles hergeben, was sie haben.
Stattdessen hatte Cardinal es irgendwie geschafft, dass Dyson ihr unbedeutende Fälle zugeschoben hatte. Ein geschickter Schachzug? Sollte sie so beschäftigt werden, dass ihr keine Zeit blieb, ihn auf Herz und Nieren zu prüfen? Das wäre wieder nur ein Beispiel für Kungelei unter Männern. Aber ich bin stolz auf meinen Job in der Abteilung. Ich bin unverheiratet und jung – noch jedenfalls –, und ich kann, wenn es sein muss, von früh bis spät jede Stunde für die Ermittlungen verwenden. Was habe ich denn sonst?, hätte sie in einer dunkleren Stunde hinzufügen können. Wie aufregend war es gewesen, dem Bürgermeister nach und nach auf die Spur zu kommen und seinen korrupten Freunden das Handwerk zu legen. Und Delorme hatte das ganz allein gemacht. Wenn sie daran dachte, verwünschte sie Dyson, Cardinal, McLeod und all die anderen, diese ganze Bande von Anglokanadiern.
»Sie müssen sich erst mal Ihre Sporen verdienen«, hatte Dyson sie heute Morgen angequakt. Einen Augenblick war sie in Versuchung gewesen, den Donut auf seinem
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