Gefrorene Seelen
bruchstückhaft. Der größte Ehrgeiz dieses Jungen bestand darin, ein DJ zu werden – einer von diesen Burschen, die ihren Lebensunterhalt damit verdienen, auf Schallplatten herumzukratzen. Jedenfalls war er nicht mehr besonders freundlich, als ich ihm klar machte, dass er nicht über Nacht bleiben könne. Entschuldigung, aber ein sechzehnjähriger fremder Junge? In der Wohnung eines homosexuellen Mannes? Der noch dazu Lehrer an der Highschool ist? Ich bin doch nicht verrückt. Ich habe ihn vor dem Bayshore Hotel abgesetzt, mit genügend Geld für eine Übernachtung, Frühstück und eine Fahrkarte. Warum sehen Sie mich so ungläubig an? Ich zeige Ihnen seine E-Mail.«
Fehrenbach brauchte einige Minuten, bis er seinen Computer hochgefahren und die E-Mail geladen hatte. »Hier, sehen Sie selbst. Schon sehr früh – das ist unser zweiter privater Austausch – forderte ich ihn auf:
Erzähl von dir. Was machst du so? Wie alt bist du?«
Er scrollte am Bildschirm weiter. »Das ist seine Antwort.«
Delorme beugte sich vor und las:
»Ich bin einundzwanzig und gebaut wie ein Stier – was willst du sonst noch wissen, Jacob?«
»Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, dass er jünger sein könnte, als er behauptete. Die meisten Leute, die online Bekanntschaften suchen, machen sich eher jünger. Auch ich runde mein wirkliches Alter um ein paar Jährchen ab. Anfangs redeten wir nur über Sex, aber als es dann darum ging, ein Treffen zu arrangieren, wurde er vage, und ich merkte, dass seine sexuelle Identität noch nicht gefestigt war. Daraus entwickelte sich so etwas wie eine Freundschaft. Ich wollte nichts überstürzen, und so wurde ich für ihn so etwas wie ein Mentor.«
»Entschuldigen Sie«, wandte Delorme ein, »aber Ihre E-Mail klingt mir nicht so rein geistig.«
»Geistig, nein. Aber das heißt nicht, dass sie krude war. Die Verhältnisse sind vielleicht liberaler als zu der Zeit, in der ich groß geworden bin, aber mit sich selbst ins Reine zu kommen – zu akzeptieren, dass die eigene Sexualität von der Mehrheit der Bevölkerung für abartig gehalten wird – ist für die meisten Menschen das schwierigste Stück Selbstanalyse, das sie zu bewältigen haben. Wenn Sie vorurteilslos sind, müssen Sie zugeben, dass es bei unserer Plauderei nach den ersten fünf, sechs E-Mails deutlich weniger nur um Sex ging.«
Er scrollte am Bildschirm die gemeinsame Korrespondenz herunter. Was er sagte, stimmte: Aus den anfangs ausgedehnten, im Detail ausgemalten Phantasien wurden mit der Zeit Diskussionen über allgemeinere Fragen der Sexualität. Fehrenbachs E-Mails entsprachen dem, was er von sich behauptete – es waren die Worte eines Mentors, der zu einem Jüngeren über einen Gegner sprach, den er vor langer Zeit erfolgreich überwunden hatte.
Gegen Ende ging der Austausch um die praktische Frage, wie »Galahad« von Toronto nach Algonquin Bay gelangen würde. Sollte er den Bus oder eher die Bahn nehmen? Wie sollte ihm das Fahrgeld geschickt werden?
»Ich nehme morgen den Bus um 11 Uhr 45 und werde voraussichtlichum 4 Uhr nachmittags in Algonquin Bay ankommen. Bis bald.«
Datiert vom 20. Dezember. Danach nichts mehr.
»Haben Sie ihn am Busbahnhof abgeholt?«
»Nein. Ich hatte ihm das Fahrgeld für Bus und Taxi schon per Post geschickt. Zu dem Zeitpunkt fürchtete ich schon, er könnte nicht so alt sein, wie er von sich behauptete. Ich wollte keinesfalls zusammen mit einem Minderjährigen gesehen werden.«
»Sie sind schrecklich vorsichtig, Mr. Fehrenbach«, bemerkte Delorme. »Manche Leute würden sagen, Sie waren sogar verdächtig vorsichtig.«
»Ich habe einen Freund in Toronto – früher lebte er jedenfalls in Toronto –, der in seinem Büro gern lange, freundschaftliche Gespräche mit Schülern führte. Private Gespräche hinter geschlossener Tür. Diese Gewohnheit und die Aussage eines Jungen, den er in einer Prüfung hatte durchfallen lassen, genügten, um meinen Freund für vier Jahre hinter Gitter zu bringen. Vier Jahre, stellen Sie sich das vor. Nein, nein, ich bin nur vernünftig, nichts weiter. Meine Tür bleibt immer offen – weit offen –, und ich treffe Schüler nie außerhalb der Schule.«
»Nach der letzten E-Mail«, sagte Cardinal, »und nach dem, was Sie uns berichtet haben, müsste Todd am 20. Dezember im Bayshore gewesen sein.«
»Richtig. Ich habe ihn dorthin gefahren. Ich bin im Auto geblieben, habe aber gesehen, wie er ins Hotel hineingegangen ist.«
»Das muss doch schwer für Sie
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