Gefrorene Seelen
schuldig, hätte er ihr nie freien Zutritt zu seinem Haus verschafft. Aber das war ähnlich wie mit seinem Schreibtisch: Ein Mann mit einer geheimen Schuldhätte ihn gerade deshalb offen lassen können, damit sie glauben sollte, er sei nicht schuldig.
Delorme wischte sich das Pizzafett von den Fingern und rief Dyson an. Ob es diesen Pressetermin, zu dem Cardinal gehen wollte, tatsächlich gebe, wollte sie wissen. Und ob es ihn gebe, versicherte ihr Dyson. Der Chef lege großen Wert darauf, und Cardinal habe allen Grund, sich dorthin zu begeben und zwar
tout de suite
(sein Französisch ließ Delorme erschaudern), andernfalls werde er, Dyson, dafür sorgen, dass Cardinal noch vor Ende der Woche nur noch Strafzettel an Falschparker verteile.
»Er ist schon unterwegs.«
»Woher wissen Sie das? Sind Sie bei ihm zu Hause? Was machen Sie da?«
»Ich bekomme gerade ein Baby von ihm. Aber keine Bange, ich kann die Dinge noch unbefangen sehen.«
»Haha. Tatsache ist, dass sich Ihnen jetzt die Gelegenheit bietet, von der wir gesprochen haben.«
»Ich verstehe nicht, warum er sie mir bietet – außer dass er unschuldig ist.«
»Das wäre doch prima.«
Delorme stand auf und putzte sich die Krümel vom Schoß. Über dem Kamin hing ein Schwarzweißfoto von Cardinal in Arbeitshemd und Jeans, wie er ein Brett hobelte und sich dazu wie ein Billardspieler nach vorn beugte. Mit seinem Dreitagebart und Sägespänen im Haar sah er für einen Polizisten ziemlich attraktiv aus. Aber ob attraktiv oder nicht, erst ließ er seine Schreibtischschubladen unverschlossen, und nun bescherte er ihr eine sturmfreie Bude. Aus Delormes Sicht kam das einer Aufforderung gleich, bei ihm zu schnüffeln.
Im Police Department von Algonquin Bay gab es keine Regeln für heimliche Durchsuchungen. Aus einem einfachen Grund: Kein Kripobeamter sollte sich dazu hinreißen lassen. Delorme hatte nie auf ungesetzliche Mittel zur Beweisfeststellung zurückgegriffen und würde das auch jetzt nicht tun. Eine heimlicheDurchsuchung hatte sich auf das Ausspähen zu beschränken, ein Auskundschaften möglichen Materials für andere, die, mit einem richterlichen Durchsuchungsbefehl versehen, nach ihr kommen würden. Das Einzige, was man am Ontario Police College in Aylmer über solche Durchsuchungen erfährt, ist, dass sie illegal und ihre Ergebnisse vor Gericht nicht zugelassen sind. Was Delorme über diese zweifelhafte Kunst wusste, hatte sie sich selbst beigebracht.
Sie hatte eine Stunde, eher noch vierzig Minuten, um ganz sicherzugehen. Folglich galt es, sich auf das Wesentliche zu beschränken. Sie schloss von vornherein alle Stellen aus, an denen man in Kinofilmen Polizisten oft stöbern sieht: schwer zugängliche Stellen auf der Oberseite von Schränken, Dachkammern oder Verstecke, für die man auf Stühle oder Leitern klettern musste. Ferner war alles ausgeschlossen, wofür Möbel oder Teppiche verschoben werden mussten. Sie konnte schwerlich Teppichläufer hochheben oder unter Couch und Sesseln nachschauen, ohne dass Cardinal die Veränderung bemerkt hätte. Sie glaubte sowieso nicht, dass Cardinal, sollte er wirklich etwas zu verbergen haben, dies an solchen Stellen verstecken würde. Deshalb hütete sie sich auch, den Deckel des WC-Spülkastens zu heben.
Nein, wenige Minuten nachdem Cardinal gegangen war, hatte sich Lise Delorme entschlossen, nur an dem Platz zu suchen, wo am ehesten belastendes Material zu finden wäre: in den Ordnern mit Cardinals persönlichen Unterlagen. Diese befanden sich, passend beschriftet, in einem unverschlossenen zerkratzten Aktenschrank aus Metall. In kürzester Zeit wusste sie auf den Cent genau, was er bei der Kripo verdiente (wegen der vielen Überstunden war es erheblich mehr, als sie erwartet hatte). Auch erfuhr sie, dass sein schmuckes, aber kaltes Haus mit Seeblick noch nicht bezahlt war. Die monatlichen Tilgungsraten waren hoch, aber bei Cardinals Gehalt bezahlbar, wenn er nicht andere hohe Kosten zu tragen hatte – wie zum Beispiel eine Tochter, die eine teure Eliteuniversität an der amerikanischen Ostküste besuchte.
Delorme interessierte sich ferner für Catherine Cardinals Einkünfte. Wenn die Frau ihres Kollegen über private Einkommensquellen verfügte, wäre er aus dem Schneider.
Sie zog den Ordner mit den Steuererklärungen heraus.
Aus der letztjährigen gemeinsamen Steuererklärung, die Cardinal handschriftlich ausgefüllt hatte, ging hervor, dass er dem hiesigen Finanzamt seine Einkünfte
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