Gefrorene Seelen
sein Kopf immer noch nicht ganz klar war, versuchte er einzuschätzen, wie gefährlich die Lage war, in der er sich befand. Die Tür war abgeschlossen, seine Kleidung war weg – eindeutig schlechte Zeichen. Nur wie schlecht, das konnte er beim besten Willen nicht sagen. Eric und Edie machten ihm keinen so schrecklichen Eindruck. Was könnte mir im schlimmsten Fall passieren?, fragte er sich. Sie glauben, ich sei reich, und halten mich gefangen, um Lösegeld zu erpressen.
Er legte sich einen Plan zurecht. Wenn sie das nächste Mal die Tür aufmachten, würde er wie ein Blitz nach draußen stürmen. Vielleicht täuschte er sich, vielleicht waren sie ja ganz harmlos, aber so würde er hier endlich rauskommen.
Über ihm knisterte plötzlich etwas. Als er nach oben schaute, flimmerte die Glühbirne noch einmal und erlosch. Das Zimmer lag plötzlich im Dunkeln. Streifen von Tageslicht umrahmten das zugenagelte Fenster.
Dunkelheit hatte Keith London nie etwas ausgemacht, aber jetzt fürchtete er sich davor. Er schaltete den Fernseher an. In der völligen Dunkelheit, die ihn umgab, war ihm sogar das kalte Licht des Bildschirms willkommen. Das Gerät besaß weder eine Antenne noch einen Kabelanschluss; der Empfang war entsprechend schlecht. Auf einem Sender starrte ihn ein geisterhafter Nachrichtensprecher mit ernstem Gesicht an, ohne dass seine Stimme zu hören war.
Keith drückte die Auswurftaste des Videorekorders, und sogleich sprang eine Kassette heraus. Auf dem Etikett stand, von Hand geschrieben, das Wort »Partyleben«. Erics Filmprojekt, dachte er. Entweder war es das oder ein Amateurvideo. Er schob die Kassette wieder in das Gerät und drückte auf die Starttaste.
Die Szene war schlecht ausgeleuchtet, sogar fürchterlich schlecht. In der Mitte war ein Lichtkreis zu sehen und ringsherum nur Dunkel. Im Kreis saß ein magerer Junge mit langen Haaren.Er machte keinen besonders intelligenten Eindruck, wie er Bier trinkend und dümmlich grinsend dasaß. Er rülpste ein paarmal und starrte in die Kamera.
Dann trat eine Frau auf – Edie – und setzte sich neben ihn. Ach so, sagte sich Keith, Amateurpornos. Meine Güte, der Norden macht die Leute pervers.
Der Scheinwerfer zeigte Edies Makel in grellem Licht. Ihre Haut schimmerte matt, als sie dem Jungen zwischen die Beine langte und ihn dort zu reiben begann. Der Junge lachte verlegen. »Leute, ihr seid irre«, sagte er.
Im Hintergrund war Musik aus einem Kofferradio zu hören, es klang wie Pearl Jam, verzerrt durch billige Lautsprecher. Edie rieb den Jungen immer noch zwischen den Beinen. Er machte seinen Hosenschlitz auf, und sie griff hinein.
Dann trat eine andere Gestalt auf. Es war Eric. Er mimte den erzürnten Ehemann und gab lächerliche Sätze von sich: »Wie kannst du es wagen, mir das anzutun! Nach allem, was ich für dich getan habe?« Es war schlimmer, als Keith es sich vorgestellt hatte.
Unter lächerlichem Geschrei zerrte Eric die Frau aus dem Lichtkegel.
Der Junge machte es seinerseits keinen Deut besser. Er rang die Hände wie ein Schmierenschauspieler, was bei seinen halb heruntergelassenen Hosen besonders lächerlich aussah.
Dann baute sich Eric, einen Hammer schwingend, in theatralischer Pose im Vordergrund auf. »Hinter meinem Rücken hast du dich an meine Frau herangemacht. Dafür werde ich dich umbringen!«
»Nein, bitte nicht!«, flehte der Junge, immer noch im Spaß. »Bitte tun Sie mir nichts! Ich hab’s ja nicht so gemeint. Ich mache auch alles wieder gut!« Dann fiel er plötzlich aus der Rolle: »Tut mir leid, ich kann nicht mehr. Das ist einfach zu blöd, findet ihr nicht?«
»Du findest das also blöd?«, fragte Eric, den Hammer hoch erhoben. »Ich zeige dir, was daran blöd ist.«
Der Hammer fuhr auf den Kopf des Jungen nieder, und plötzlich war alles verwandelt. Selbst bei der schlechten Tonqualität merkte Keith sofort, dass das Krachen der Schädelknochen echt war. Ebenso echt war die plötzliche Leere im Gesichtsausdruck des Jungen – der offene Mund, die blicklosen, entsetzten Augen.
Eric holte erneut aus. »Du Wichser, für wen hältst du dich eigentlich?«
Auf dem Band waren noch weitere anderthalb Minuten Film. Während sie abliefen, blieb Keith im flimmernden Schein des Fernsehers vollkommen regungslos sitzen. Dann hob er den Kopf und heulte wie ein Schlosshund.
30
D raußen steckte irgendwo ein Autofahrer im Schnee fest. Das Geräusch durchdrehender Räder drang bis ins Vernehmungszimmer, wo Cardinal einer
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