Gefrorene Seelen
wurden vorher schon eine Zeit lang vermisst, ehe sie der Mörder umbrachte.«
»Das bedeutet nicht, dass jeder Vermisste von diesem Verrückten entführt worden ist. Im Übrigen ist Ihr Freund auf einer Rundreise durch ganz Kanada. Das ist ein ziemlich weitläufiges Gelände, um darin einen Vermissten zu finden. Sie sagen, er wurde für Dienstag in Sault Sainte Marie erwartet?«
»Ja. Und es sieht ihm gar nicht ähnlich, zu einem vereinbarten Treffen nicht zu erscheinen. Was ich an Keith unter anderem schätze, ist, dass er rücksichtsvoll gegenüber anderen Menschen ist. Sehr verlässlich. Er mag es nicht, wenn es Ärger gibt.«
»So etwas liegt ihm fern, meinen Sie?«
»Es ist überhaupt nicht seine Art. Ich bin nicht hysterisch, Mr. Cardinal. Ich bin nicht aus einer Laune hierher gekommen. Ich habe meine Gründe.«
»Schon gut, Miss Steen. Ich wollte damit lediglich andeuten – aber fahren Sie fort.«
Die junge Frau holte tief Luft, hielt den Atem eine Weile an und sah in die Ferne. Cardinal vermutete, dass sie das aus einer Gewohnheit heraus tat – einer sympathischen, wie ihm schien. Karen Steen hatte eine sehr einnehmende Ernsthaftigkeit. Er konnte sich unschwer vorstellen, dass sich ein junger Mann in sie verliebte.
»Keith und ich sind in mancher Hinsicht gegensätzlich, und doch sind wir uns sehr nahe«, befand sie schließlich. »Wir wollten nach der Highschool heiraten, aber dann haben wir uns entschlossen, die Heirat um ein Jahr zu verschieben. Ich wollte gleich mit dem Studium beginnen, während Keith erst mal die Welt sehen wollte, ehe er sich wieder ans Lernen machte. Wir waren der Meinung, dass es keine Schande für uns wäre, noch ein Jahr zu warten. Ich sage Ihnen das nur, damit Sie verstehen, dass Keith es ernst meinte, als er zu schreiben versprach – das war nicht einfach so dahergeredet. Wir haben sogar festgelegt, in welchem zeitlichen Abstand wir uns schreiben wollten, um zu verhindern, dass sich unsere Briefe kreuzen.«
»Und hat er geschrieben? So wie er es versprochen hatte?«
»Nicht gerade regelmäßig wie ein Uhrwerk, aber immerhin – ein Brief pro Woche, einen Anruf und manchmal eine E-Mail. Jede Woche. Bis vor kurzem.«
Cardinal nickte verständnisvoll. Karen Steen war nicht nur eine ernsthafte junge Frau, sie war auch ein guter Mensch. Das war ein Urteil, zu dem sich Cardinal nicht oft genötigt fühlte. Man hatte sie gewissenhaft – und wahrscheinlich auch streng – erzogen und ihr die Achtung vor anderen Menschen und vor der Wahrheit eingeschärft. Sie sah holländisch aus mit ihren strohblonden Haaren, die sie jungenhaft kurz trug, und den blauen Augen, die die dunkle Farbe neuer Blue Jeans hatten.
»Keiths letzter Anruf war am Samstag, den fünfzehnten – vor anderthalb Wochen. Es klang so, als wäre alles in Ordnung. Er rief aus Gravenhurst an, wo er in einem schäbigen kleinen Hotel wohnte und nicht gerade eine tolle Zeit verbrachte. Aber er ist von Natur aus ein fröhlicher Mensch, der schnell Kontakt hat. Außerdem ist er ein ziemlich guter Musiker – er schleppt seine Gitarre überallhin mit. Die Leuten neigen dazu, ihn auszunutzen. Das beunruhigt mich schon ein bisschen.«
Keith kann von Glück sagen, dachte Cardinal, jemanden wie Karen zu haben, der sich so um ihn kümmert. Sie holte ein Fotoaus ihrer Handtasche und reichte es Cardinal. Zu sehen war ein Junge mit langen braunen Locken, der auf einer Parkbank saß und angestrengt die Stirn runzelnd Gitarre spielte.
»Er ist so naiv und arglos«, fuhr sie fort. »Er wird immer von Sektierern und Flugblattverteilern belästigt, weil er ihnen ihre anfängliche Offenheit abnimmt, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Sie sah ihn aus tiefblauen Augen verständnisheischend an. »Das heißt nicht, dass er auf den Kopf gefallen ist, ganz und gar nicht. Aber die anderen Vermissten waren schließlich auch nicht dumm, oder?«
»Na ja, zwei von ihnen waren noch sehr jung, aber dumm war keiner von ihnen.«
»Keith hatte vor, am Montag in Richtung Sault Sainte Marie weiterzufahren, aber so richtig darauf gefreut hat er sich nicht. Verwandte zu besuchen ist nicht gerade das, was er am liebsten macht …« Sie sah zur Seite, atmete tief durch und hielt die Luft an.
Keith, mein Junge, dachte Cardinal, wenn du diese junge Frau nicht mit beiden Händen festhältst, bist du wirklich ein Dummkopf. »Was gibt es?«, fragte er sanft. »Warum zögern Sie jetzt?«
Sie atmete mit einem langen Seufzer aus. Die ernsten blauen
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