Gefuehlschaos inklusive
Unerhört, was sie hier von sich gibt.
„Aber, Frau Sander, Claudia weiß sehr genau, was sie will“, beruhigt Christian sie, obwohl ich mich frage, weshalb er sich dazu berufen fühlt. Und seit wann, weiß ich, was ich will? Das ist ja interessant! „Ich schätze ihre Arbeit sehr und bin davon überzeugt, dass sie zu weitaus mehr fähig ist, wenn sie nur die Gelegenheit dazu bekäme.“
Er braucht gar nicht versuchen, meine Eltern zu überzeugen. Für sie bin ich ein Loser, weil ich mich gegen ihren Willen dazu entschlossen hatte, meinen eigenen Weg zu gehen. Ich entschied mich gegen ein Studium und begann eine Lehre als Versicherungskauffrau. Wie verantwortungslos von mir. Vor allem, weil ich deswegen schneller auf eigenen Beinen stand und mich somit der elterlichen Fürsorge entzog.
„Ach ja?“, bemerkt meine Mutter zweifelnd und sieht mich an, als wäre sie gerade zu unerreichter Erleuchtung gelangt. „Es ist wirklich sehr bedauerlich, dass wir es niemals geschafft haben, zu Claudias Kern vorzudringen“, fährt sie nun fort. „Meinem Mann und mir ist durchaus bewusst, dass wir bei Claudias Erziehung große Fehler gemacht haben. Sie war schon immer sehr eigensinnig und ließ sich einfach nichts sagen.“
„Was redest du da?“, mische ich mich nun empört in diese abwegige Unterhaltung ein. Ihr wolltet mich doch nie. Für euch war ich immer nur eine Last und das habt ihr mich jeden Tag spüren lassen. Nicht ich habe euch nicht an mich herangelassen, sondern umgekehrt. Ihr seid kaltherzig und gefühllos, habt mich einfach in die Hände eines Kindermädchens gegeben und mich ins Internat abgeschoben.“
Mein Vater bekommt einen hochroten Kopf, während meine Mutter auf ihre Art versucht, ihn zu beruhigen.
„Lass nur, sie weiß es doch nicht.“
„Was soll das heißen?“, frage ich verwirrt. Mit solch einer seltsamen Reaktion habe ich nicht gerechnet. Das erste Mal in meinem Leben konfrontiere ich meine Eltern mit meinem Unmut über eine verkorkste Kindheit und es kommt heraus, dass sie mir etwas vorenthalten haben. „Jetzt bin ich aber neugierig. Vielleicht ist es an der Zeit, mal Klartext zu reden. Wovon weiß ich nichts?“ Die Bemerkung meiner Eltern wühlt mich derartig auf, dass ich Christian ganz vergesse.
Meine Mutter schüttelt mit dem Kopf, doch mein Vater rudert wieder zurück.
„Irgendwann muss sie es doch erfahren.“
„Aber doch nicht jetzt“, widerspricht meine Mutter.
„Wir haben es schon viel zu lange vor uns hergeschoben. Herr Ruhland ist mit unserer Tochter befreundet. Es spricht nichts dagegen, dass er mithört, was wir Claudia zu sagen haben.“
Das sehe ich zwar anders, aber ich kann Christian ja schlecht vor die Tür schicken. Und außerdem will ich jetzt auf der Stelle wissen, worum hier so ein Geheimnis gemacht wird!
„Du bist nicht unser leibliches Kind.“Fassungslos starre ich meinen Vater an. „Deine Mutter und ich konnten keine eigenen Kinder bekommen. Daher haben wir dich adoptiert.“
„Wir haben dich immer geliebt wie unser eigenes Kind“, fährt meine Mutter fort. Das musst du uns glauben.“ Meine Mutter tupft sich weitere Tränen aus dem Gesicht. „Wir hatten es immer schwer, an dich heranzukommen. Als wir dich bekamen, warst du schon drei Jahre alt. Deine leiblichen Eltern sind bei einem Unfall ums Leben gekommen. Du hast viel durchgemacht in diesem zarten Alter.“
Meine Augen werden feucht und es lösen sich ein paar Tränen. Wie soll ich mit diesem Geständnis umgehen? Ich habe gerade erfahren, dass ich alleine auf der Welt bin. Meine Eltern sind gar nicht meine Eltern, sondern lediglich ein unvollkommener Ersatz. Ihre Unnahbarkeit mir gegenüber schreiben sie nun mir zu und der Tatsache, dass ich adoptiert bin. Das finde ich ungeheuerlich. Machen sie es sich nicht ein bisschen zu einfach?
Für mich ist der Abend gerade gelaufen. Das muss ich erst mal verdauen und dafür brauche ich Zeit.
„Warum habt ihr so viele Jahre gebraucht, um mir das zu sagen?“, frage ich sie, doch die Antwort warte ich nicht mehr ab. Ich renne aus dem Zimmer und verlasse verstört das Haus. Dabei vergesse ich, mir zuvor meinen Mantel überzuziehen und nach meiner Handtasche zu greifen. Darum stehe ich nun frierend und ohne Geld in meinem dünnen Kleidchen auf der Straße vor dem Haus meiner Eltern.
Langsam gehe ich den Weg hinab und denke darüber nach, was ich gerade erfahren habe. Die Kälte zieht mir durch Mark und Bein und ich zittere am ganzen
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