Gefuehlsecht
trinken. Jürgen mag es nicht, wenn ich Whiskey trinke. Er findet, es passe nicht zu Frauen.
Irgendwie fühle ich mich ganz plötzlich ganz fürchterlich einsam. Komisch, seit Lena mich mit den Worten zu trösten versucht hat: »Mach dir nicht zu viele Gedanken. Es ist ganz normal, dass du Angst hast vor so einem entscheidenden Schritt«, ist mir wirklich ganz anders geworden. Ich habe ein verdammt flaues Gefühl im Magen. Vielleicht liegt das aber auch an dem riesigen Schnitzel, das ich vorhin verdrückt habe?
Zum Glück habe ich noch eine Flasche Talisker, meinen Lieblingswhiskey, in meiner geheimen Kiste versteckt. Darin befinden sich wirklich persönliche Dinge von mir, wie das einzige Foto von Pocke, das mir gerade jetzt in die Händen fällt. Und jede Menge Briefe von Gunther. Der konnte echt toll schreiben. Er hat sich immer ganz süße Namen für mich einfallen lassen, wie zum Beispiel »Skhem«, das heißt »süße, kleine, hocherotische Muse«. Der Schottlandurlaub mit ihm hingegen war eine Katastrophe. Es hat ständig nur geregnet, Gunther bekam immer schlechtere Laune und war dann sauer auf mich, weil mir der Regen nichts ausmachte. Ich mag Regen. Ich mag auch lieber den Herbst als den Sommer. Der Schottlandurlaub bedeutete auf jeden Fall das Ende für unsere Beziehung. So viel Regen hatte Gunther damals einfach nicht verkraftet.
Ich schenke mir ein klitzekleines Gläschen Talisker ein und wühle weiter in der Kiste. Ich ziehe ein Kondom mit Verfallsdatum 7/2004 heraus und ein rotes Aidsschleifchen, das ich damals immer ganz solidarisch an meine Pullis geheftet hatte. Wahnsinn, wie die Zeit vergeht. Dass Kondome auch schlecht werden können, war mir bisher gar nicht klar. Ob die dann ranzig werden oder anfangen zu müffeln? Oder werden sie einfach nur undicht und fangen an, sich aufzulösen? Es ist Ewigkeiten her, dass wir beim Liebesspiel ein Kondom benutzt haben. Ich nehme die Pille. Bevor Jürgen und ich das erste Mal Sex hatten, haben wir uns beide auf HIV testen lassen. Damit ich das Einnehmen der Pille nicht vergesse, erinnert mich mein Handy jeden Morgen mit einem Piepton daran. Und falls ich sie dennoch einmal vergesse zu schlucken, haben wir einfach keinen Sex, bis wir wieder dürfen.
Deswegen brauchen wir keine Kondome. Komisch, ein Kondom und Jürgen, das passt irgendwie gar nicht zusammen.
Ob dieses hier noch gut ist? Beim Joghurt steht ja auch ein Mindesthaltbarkeitsdatum drauf und trotzdem ist er ein paar Tage länger genießbar. Egal. Irgendwann hat Jürgen mir den Unterschied zwischen Verfall und Mindesthaltbarkeit erklärt. Das Kondom ist futsch! Wozu aufheben? Vorsichtig öffne ich die Verpackung, auf der in großen Buchstaben GEFÜHLSECHT gedruckt steht. Was bedeutet das eigentlich? Echt können die Gefühle ja nicht sein. Immerhin ist da dieses hauchzarte, beschichtete Etwas dazwischen, das den direkten Kontakt verhindert. »Gefühle wie echt« wäre wohl treffender. Ich denke an Jürgen. Sind meine Gefühle echt? Warum beschleicht mich dann ausgerechnet jetzt dieses dumpfe Gefühl, dass da eine dünne Haut zwischen uns ist, die uns vor direktem Kontakt schützen will?
Na warte! Ich puste das Kondom auf wie einen schönen bunten Luftballon. Gleicht platzt es! Nur noch ein kleines bisschen pusten. Pustekuchen! Das Kondom will einfach nicht platzen. Es zischt wie ein Düsenflieger durchs Zimmer. Sieht interessant aus, wie es in meinem Ficus landet und schlaff an einem Zweig hängen bleibt. Ich stecke mir das rote Schleifchen an die Kapuzenjacke, mit der ich heute Vormittag meinen »Vokuhila« verstecken wollte, und schenke mir noch ein Gläschen Talisker ein. Dazu genehmige ich mir eine Tafel Schokolade. Das passt gut zusammen, finde ich. Aber es hilft mir auch nicht weiter. Ich fühle mich immer noch sehr einsam und das merkwürdige flaue Gefühl turnt auch nach wie vor in meiner Bauchgegend herum. Ich habe heute tatsächlich einen fremden Mann geküsst. Eigentlich hätte ich ja Jürgen oder Jürgen mich küssen müssen.
Wann hat Jürgen mich das letzte Mal geküsst? Hat Jürgen mich überhaupt jemals so geküsst, dass mein Herz wie wild anfing zu klopfen und mein Fuß sich Richtung Himmel hob? Ob ich Bruno anrufen soll? Immerhin habe ich seine Nummer. Oder soll ich mich lieber bei Jürgen melden? Um einfach da weiterzumachen, wo wir letzten Freitag aufgehört haben? Was Jürgen wohl gerade treibt? Es ist fast elf Uhr abends. Wahrscheinlich liegt er schon im Bett und schläft
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