Gefuehlsecht
Straße bleibe ich unentschlossen stehen. Die Hausnummer 56 ist nur drei Häuser weiter. Es schneit immer stärker. Ich könnte ja wenigstens einen Blick auf die Klingelschilder werfen.
In der Ferne höre ich eine Horde lärmender, lachender Menschen, die immer näher kommen. Ich überlege noch kurz, ob ich mich wieder in mein Auto verkrümeln und einfach abhauen soll, da biegen sie auch schon um die Ecke. Es sind mindestens zwanzig Leute, vorneweg ein dunkelhaariger Mann mit zwei Kindern an den Händen. Er sieht von der Statur her aus wie Bruno. Sie kommen direkt auf mich zu. Hilflos und wie angewurzelt stehe ich immer noch vor der Hausnummer 50. Ich will weglaufen, doch meine Beine bewegen sich nicht. Der Mann bleibt direkt vor mir stehen. Es ist nicht Bruno.
»So alleine, junge Frau? Können wir helfen?«, fragt er freundlich.
»Ich suche einen Bruno, kenne aber seinen Nachnamen nicht. Sind Sie zufällig aus dieser Straße?«, entgegne ich mutig.
Ein breites Grinsen zieht sich augenblicklich über das Gesicht des Mannes, der mir irgendwie von Anfang an bekannt vorkam. »Bist du etwa Barbara? Das ging aber schnell. Wir dachten schon, Bruno hat uns eine ganz heiße Lügengeschichte aufgetischt. Wird am helllichten Tag von einer wunderschönen Frau angesprochen, die ausgerechnet ihn küssen will. Und dann haben wir die Anzeige gesehen. Wow! Und jetzt bist du hier. Der wird Augen machen, wenn er dich sieht.«
Maja wird sterben. Und Marie und Lena und Uschi müssen auch dran glauben. Wieso haben die mir nicht gesagt, dass sich doch der Richtige auf die Anzeige hin gemeldet hat? Diese Biester! Weiter kann ich nicht mehr denken. Innerhalb von Sekunden werde ich von mir völlig fremden Menschen umringt und alle reden auf mich ein. Ich höre noch: »Mama, Papa, das ist Barbara! Wir haben einen Überraschungsgast für Brunos Feier«, und werde von zwei Kerlen auf die Arme genommen, über die Stra ße getragen, dann genau drei Häuser weiter, durch die Haustüre, die Treppe hoch und in eine Wohnung hinein. Vor mir im Flur stehen mir gänzlich unbekannte Leute.
Plötzlich ist es mucksmäuschenstill, so als ob alle auf einmal den Atem anhalten würden. Da sagt jemand: »Bruno, wir haben dir ein Geschenk mitgebracht. Es stand ganz alleine auf der Straße und wusste nicht so recht, wohin es gehört.«
Hätte irgendwer aus irgendeinem Grund eine Stecknadel fallen lassen, ehrlich, man hätte sie gehört. Ganz bestimmt. Wie auf Kommando teilt sich die Gruppe vor uns in zwei Hälften und ich werde durch den so entstehenden Gang in die Küche getragen. Vor mir steht Bruno. In Jeans und weißem T-Shirt, in der Hand einen Kochlöffel, mit dem er wohl bis eben in der Tomatensoße gerührt hat. Jetzt werde ich wirklich fast ohnmächtig. Und alles, was mir einfällt ist: »Wie heißt du eigentlich mit Nachnamen?«
Bruno sieht mich an. Unendlich lange. Ich sterbe gleich wirklich. Jetzt und auf der Stelle. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit, bis Bruno endlich antwortet: »Fagiolo.«
»Fagiolo?«
»Ja, das heißt übersetzt Bohne. «
Einen kurzen Moment denke ich an Maja und Victor Erbsenschote. Wir werden gut zusammenpassen. Noch immer sitze ich in den Armen von Brunos Brüdern. Da ruft irgendjemand aus der Gruppe »Bacio!«. Und dann noch jemand und noch jemand, bis es einstimmig von allen Seiten schallt: »Bacio, bacio!«
Endlich setzen meine Träger mich ab und ich spüre wieder Boden unter den Füßen. Aber nicht lange, denn Bruno kommt auf mich zu, umfasst mein Gesicht mit beiden Händen und flüstert mir ins Ohr: »Bacio, das bedeutet Kuss!«
Originalausgabe 07/2009
Copyright © 2009 by Andrea Russo
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur
Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen
Copyright © 2009 dieser Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlagillustration: © Chemistry Digital Vision
Getty Images
eISBN : 978-3-641-02788-9
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