Gefuehlsecht
Mutter, um dann kurze Zeit später in ihrem Gehirn anzukommen.
»Ich habe mir schon oft Gedanken über dich gemacht, Babsi. Du bist so anders als Lena.«
Lena ist seit zehn Jahren mit Peter verheiratet. Glücklich verheiratet. Komisch, dass meine Mutter Marie nicht erwähnt hat. Wer weiß? Vielleicht ist sie ja wirklich adoptiert?
Natürlich lässt meine Mutter nicht locker. »Ich glaube, ich weiß jetzt auch warum.«
»Was, warum?«
»Na, warum du so anders bist.«
»Das weiß ich doch schon längst. Du hast während der Schwangerschaft die ganze Zeit gedacht, dass ich ein Junge werde. Und das nur, weil die Hebamme dir diesen Floh ins Ohr gesetzt hatte. Die konnte das angeblich fühlen. Das hast du schon oft genug erzählt. Es tut mir wirklich leid, Mutti, dass ich kein Junge geworden bin.«
»Nein, das meine ich nicht. Ich weiß gar nicht, ob ich dir das erzählen soll …«
»Dann sage es mir lieber nicht«, unterbreche ich sie schnell, denn ich ahne Schlimmes.
Doch meine Mutter lässt sich nicht davon abhalten. »Auf jeden Fall war ich im neunten Monat mit dir schwanger. Ich stand unter der Dusche. Und da habe ich mit dem Duschkopf …«
»Mutti, ich will das wirklich nicht genau wissen!«
»Auf jeden Fall bist du deswegen zwei Wochen zu früh auf die Welt gekommen.«
Ich sag ja, meine Mutter ist an allem schuld. Hätte sie nicht während der Schwangerschaft mit der Brause gespielt, dann würde ich jetzt wahrscheinlich Sozialpädagogik studieren. Oder Hauswirtschaft, wenn man so was überhaupt studieren kann. Wahrscheinlich wäre ich schon seit Jahren verheiratet, mit einem Mann, den ich jeden Tag glücklich machen würde.
Aber das Gespräch ist noch nicht beendet. Ich klammere mich hilfesuchend an den Telefonhörer, da höre ich die glockenklare Stimme meiner Mutter wieder.
»Babsi? Barbara? Bist du noch da? Ich habe ein Buch für dich. Das ist wirklich sehr interessant.«
»So, wie heißt es denn?«, frage ich missmutig.
» Die perfekte Liebhaberin . Das musst du unbedingt lesen. Lena war auch ganz begeistert.«
Super, nicht nur, dass meine Mutter denkt, Jürgen hätte mich verlassen, weil er eine andere hat. Sie denkt zudem auch, er hätte eine andere, weil meine Sextechniken zu wünschen übrig lassen. Ich bin eine gute Liebhaberin! Jürgen war immer mehr als zufrieden. Und Gunther auch. Zumindest hat sich noch keiner von beiden bei mir beschwert. Na ja, Martin hätte wahrscheinlich immer was zu verbessern gewusst, aber das war ja auch ein Spinner. Und überhaupt, was macht eine gute Liebhaberin denn schon aus? Und warum schenkt meine Mutter mir nicht gleich den zweiten Teil, das männliche Pendant, dazu? Warum sind in meiner Familie alle Frauen immer so darauf versessen, ihre Männer glücklich zu machen?
Diesmal will ich es genau wissen, also flöte ich zuckersüß ins Telefon zurück: »Schön, wenn du meinst. Aber kann ich das Gegenexemplar bitte auch haben? Ich meine, Der perfekte Liebhaber ?«
»Ach, weißt du, Babsilein, dein Vater liest ja nicht so gerne. Und ich bin ja auch ganz zufrieden.«
Das freut mich für meine Mutter, ehrlich. Und zur Not hat sie ja auch noch den Duschkopf. Nur dass sie mir das erzählt hat, werde ich ihr niemals verzeihen. Jetzt kann ich nie wieder baden gehen, ohne dabei an sie denken zu müssen.
Über die Ehe meiner Eltern habe ich mir nie Gedanken gemacht. Sie sind jetzt schon seit sechsunddreißig Jahren verheiratet und machen keinen unglücklichen Eindruck. Sie haben sich immer liebevoll um uns gekümmert, wobei mein Vater eigentlich nie viel zu sagen hatte. Aber das lag wohl daran, dass er oft außer Haus war und viel gearbeitet hat. Einer musste ja schließlich die Brötchen verdienen. Die Erziehung hat voll und ganz meine Mutter übernommen. Bücher haben dabei immer schon eine große Rolle gespielt. Mutti hat uns immer schon gerne welche geschenkt, auch als wir noch ganz klein waren. Vor dem Schlafengehen hat sie uns immer etwas vorgelesen. Als Lena selbst lesen konnte, hat sie diesen Part übernommen. Und dann war ich mit Vorlesen dran. Als Marie so weit war, hatte die Vorleserei ein Ende. Dann hatten wir die Wahl. Entweder schlafen oder lesen. So hat uns unsere Mutter immer zum Lesen gebracht, weil wir natürlich freiwillig nie schlafen wollten. Vor dem Lesen durften wir früher immer noch die neueste Folge der aktuellen Kinderserie gucken.
Ich weiß noch ganz genau, wie Marie mal eine ganze Zeit lang Brot vom gedeckten Tisch geklaut und
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