Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)
zuvor gesagt hat. Danach sagt sie: »Du, ich häng wahnsinnig gern mit dir herum, Marcello.« Anschließend schlafen sie miteinander. N. sagt, dass sie es sehr schön finde, wie beiläufig und unkompliziert diese Sache zwischen ihnen geschehe.
Marcello ist schweigsamer als üblich. Er denkt an den Brief, den er nun doch zu schreiben beabsichtigt. Die Gewaltphantasie flackert noch einmal kurz in ihm auf.
N. sagt, dass sie, obwohl alles sehr schön sei, Angst habe, sich emotional voll auf Marcello einzulassen. Denn dann, wenn sie sich voll auf ihn eingelassen habe, stelle sich womöglich ein Mangel heraus, ein für sie unakzeptabler Mangel, ein Ausschlussgrund.
Auf Marcellos Nachfrage präzisiert sie: Solche Mängel seien, bevor man sie im konkreten Einzelfall bemerke, schwer zu benennen.
N. erklärt Marcello, dass in der ersten Phase, in der sie sich gerade befänden, das sogenannte Abchecken stattfinde. Abchecken sei das erste Ritual im normalen Ablauf. Beim Abchecken komme es darauf an herauszufinden, ob sich größere Mühe lohne oder ob es klüger sei, es bei ein paar Malen Sex zu belassen. Wird mir der potenzielle Partner wehtun? Wird er mich gut und respektvoll behandeln? Wird er einen Imagegewinn oder einen Imageverlust bedeuten, wird er im Freundeskreis akzeptiert werden, hat er peinliche oder mit meinem Lebensstil unvereinbare Angewohnheiten?
Es sei eine emotional sehr schwierige Zeit, weil in der Phase des Abcheckens, die ungefähr der Probezeit bei einem neuen Job entspricht, unvermeidlich eine gewisse Bindung zu dem Kandidaten entstehe, eine Verliebtheit. Gleichzeitig müsse auf Distanz geachtet werden, damit die Loslösung nicht zu schmerzhaft sei, falls das Abchecken zu einem negativen Ergebnis führe.
Marcello sagt, ohne auf den Zusammenhang zu achten, das Hauptmotiv zur Familiengründung sei Sex. Die Ehe sei doch wohl ein vom Staat und von der Kirche lizensierter, offizieller Sexmonopolbetrieb, so etwas wie die Post oder die Bahn. Die Ehe, sagt er, konnte deshalb niemals pleite gehen, genauso wenig wie die Post. Auch wenn es neben der Ehe immer einen Schwarzmarkt der heimlichen Liebschaften gegeben hat. Seit der Liberalisierung des Liebesmarktes geht es mit dem früheren Monopolbetrieb bergab, weil die Konkurrenz billiger und unkomplizierter ist. Der frühere Monopolbetrieb Ehe versucht, sich der Konkurrenz anzupassen. Er wird beweglicher und kundenfreundlicher. Trennung wird einfacher. Affären werden eher hingenommen. Wir müssen die Post, die Bahn und die ARD beobachten, sagt Marcello, daran können wir ablesen, wie es mit unserem Liebesleben weitergeht.
N. sagt, sie glaube nicht, dass arrangierte Ehepaare unglücklicher gewesen seien. Man gehe mit einer anderen Haltung an solch eine Bindung heran. Man erwarte weniger und sei deshalb nicht so leicht enttäuscht.
Marcello ist unkonzentriert. Das abstrakte Gespräch langweilt ihn. Er steht auf und zieht sich an.
N. betrachtet ihn. Sie lobt seinen Körper. Er sei gut in Form, sie finde ihn schön, wegen des Bauchansatzes solle er sich keine Sorgen machen. Marcello öffnet das Fenster. Das hat er noch nie getan. N. ist irritiert.
Er fährt ins Büro und arbeitet bis dreiundzwanzig Uhr. Dann fährt er nach Hause.
Zu Hause zieht er die Schuhe aus, geht zum Kühlschrank und trinkt ein Glas Bananenmilch. Seine Frau hat die Milch selber gemacht, mit einer Küchenmaschine.
Ihm fällt ein, dass er die Schuhe seiner Frau seit Monaten nicht mehr geputzt hat. Das war, seit seine Frau und er sich kennen, immer eine Arbeit, die von ihm erledigt wurde.
Marcello setzt sich auf den Küchenboden. Es ist ein dunkelgrauer Marmorboden. Er holt verschiedene Töpfchen, Bürsten und Lappen. Vor ihm ein Hügel aus Damenschuhen. Marcello denkt: Die Schuhe meiner Frau sehen aus wie alte Hunde, denen das Fell ausfällt.
Während er in der Küche sitzt und Schuhe putzt, hörte er von Zeit zu Zeit in weiter Ferne eine Polizeisirene und im Garten ein Rascheln. Er vermutet, dass es Kaninchen sind. Wildschweine wären lauter.
Er fragt sich, ob seine Frau zu Hause ist. Sie haben vor einigen Jahren das Abkommen getroffen, immer morgens gemeinsam die Tochter zu wecken und gemeinsam am Frühstückstisch zu sitzen, auch wenn sie die Nacht in einer anderen Wohnung verbringen. Seit die Tochter selber aufsteht, sind sie nachlässig geworden.
Marcello denkt: Über unserer Ruine ist Unkraut gewachsen.
Es ist nach Mitternacht. Er geht die Treppe hinauf. Er öffnet leise die
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