Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)
zur Bahnstation.
Die Strecke zur Bahn, die er als anstrengend, aber ziemlich einfach in Erinnerung hatte, kam ihm jetzt, wo er sich nicht mit ihr stritt, unendlich schwieriger vor. Er seilte sich an Wurzeln in Bachläufe ab, tiefe Canyons, wo, wie er sich zu erinnern glaubte, noch vor zwei Tagen flache Rinnsale gewesen waren, und querte mit nassen Schuhen Kuhweiden, die wie Mondlandschaften aussahen. Er ging aus Versehen im Kreis, setzte neu an, zog das Hemd aus. Zweige peitschten ihm ins Gesicht, Insektenschwärme kreisten über ihm. Kein einziger Mensch war zu sehen. Stunde um Stunde verging. Er musste so angestrengt darauf achten, wo er hintrat, dass er kaum zum Nachdenken kam. Einige Wände waren fast so steil wie die Wand, an der er am Tag zuvor versagt hatte. Das machte ihm jetzt nichts mehr aus.
Am Nachmittag sah er den Bahnhof, ein Fachwerkhaus unten im Tal. Er legte sich auf eine Wiese und schlief ein. Als er aufwachte, hatte er im ersten Moment vergessen, wo er war und warum. Er wunderte sich, dass N. nicht bei ihm war. Dann nahm er die letzte Etappe in Angriff. Es gab endlich einen richtigen Weg, er begegnete auch anderen Wanderern.
Auf dem Bahnsteig stand eine hölzerne Bank, ähnlich der Bank, die es oben auf der Berghütte gegeben hatte. Dort saß sie. Als sie Georg sah, stand sie auf. Sie lächelte ihn an, sie sagte: »Da bist du ja endlich. Ich warte schon seit einer Ewigkeit.« Der letzte Zug ginge in zehn Minuten.
Fahren wir nach Hause, sagte sie. Und das taten sie dann auch.
14
Die Umzugsfirma sollte um sieben kommen. Um fünf stand Orlich auf. Er hatte schon seit Jahren sein eigenes Zimmer. Claudia saß fertig angezogen in der Küche. Sie hatte Kaffee gekocht wie immer. Die Kisten, zweiundvierzig Kisten, die sie in den vergangenen Tagen gemeinsam gepackt hatten, standen in der Eingangshalle. Die kleineren Möbel, die Orlich mitnehmen wollte, hatten sie am Vorabend gemeinsam in die Halle getragen. In der Küche fehlte das kleine Beistelltischchen, auf dem sie, wenn sie Gäste empfingen, immer Getränke und Brot abstellten. Ein dünner Streifen Schmutz erinnerte an die Stelle, wo der Tisch die Wand berührt hatte.
Vor ein paar Jahren hatten sie angefangen, Kunst zu sammeln. Das Haus war im Wesentlichen abgezahlt, dadurch wuchsen ihre finanziellen Spielräume. Sie waren keine Experten, bei den Bilderkäufen achteten sie nicht auf mögliche Wertsteigerungen oder Trends des Kunstmarktes. Sie kauften, was ihnen gefiel und was sie sich leisten konnten, meistens Gegenständliches, Porträts oder Stillleben, auch Straßenszenen. Sie mochten die Atmosphäre bei den Vernissagen, dieses lockere Beieinanderstehen, Glas in der Hand, eine unverbindliche und unanstrengende Form der Geselligkeit, der man sich jederzeit wieder entziehen konnte, ohne jemanden zu beleidigen. Keine mühsame Suche nach Gesprächsthemen, dank der Bilder war ja immer ein Thema vorhanden. Eine Vernissage war ein angenehmeres Wochenendprojekt als ein Essen, bei dem man es stundenlang neben jemandem aushalten musste, dem man womöglich nichts zu sagen hatte. Sie brachten auch von jeder Reise mindestens ein Bild mit. Nichts Folkloristisches aus dem Andenkenladen, um Gottes willen. Nein, schon etwas Modernes aus einer richtigen Galerie.
Auf allen Gegenständen und Möbelstücken, die Orlich mitnehmen würde, klebte ein roter Punkt. Die roten Klebepunkte hatte er in derselben Papierwarenhandlung gekauft, in der er auch die ersten Schulhefte seiner Tochter Lena gekauft hatte und in der er, jedes Jahr, das Geschenkpapier für Weihnachten kaufte. Er durfte mitnehmen, was er wollte. Claudia schaute beim Packen und beim Verteilen der roten Klebepunkte nicht zu, sie ging weg und kam einige Stunden später wieder. Sie wollte die Gefahr vermeiden, dass sie anfingen zu feilschen. Sie vertraute Orlich, trotz allem. Nur über die Bilder wollte sie reden.
Als sie durch das Haus gingen, geschah etwas, das Orlich beinahe körperlich spürte. Claudias und Orlichs Haus, dieser Organismus, der in ihrem Rhythmus atmete, der sich an ihre Bedürfnisse und auch an ihre Mängel gewöhnt hatte wie ein Tier, erbaut aus gemeinsamen Vorlieben und Abneigungen, mit Nischen für das, was jeder für sich besitzt, das Regal für Claudias Stofftiere, die Schublade mit Orlichs leeren Streichholzschachteln und der Stapel mit seinen seit Jahren halb gelesenen Büchern, ein Geschöpf, das lebte, weil es geboren wurde, und alterte und Antwort gab, wenn sie fragten,
Weitere Kostenlose Bücher