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Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)

Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)

Titel: Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Martenstein
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waren ratlos. Beide standen in dieser Steilwand, redeten ein wenig, dann schwiegen sie. Der Mittag ging vorüber, das Wetter war gut. Manchmal schrie ein Vogel.
    Die Angst kam und ging wie Meeresbrandung. Eine Welle näherte sich, er konnte sie schon aus einiger Entfernung erkennen, sie baute sich auf, sie brach. In dem Moment, in dem die Angstwelle sich brach, glaubte er, es keine Sekunde länger aushalten zu können, es rauschte und schäumte in seinem Kopf. Dann aber flutete die Angst langsam zurück, und er hatte für ein paar Momente wieder Luft.
    Georg erinnerte sich an den Turnunterricht. Wenn die Mannschaften gewählt wurden, gehörte er anfangs immer zu den zwei oder drei letzten, zu den kleinen, dicken Jungen, die beschämt auf dem Schulhof stehen, die langsam und ungeschickt sind und nicht nützlich. Das hatte ihm etwas ausgemacht, darum war er sportlich geworden. Er war in einen Sportverein eingetreten, hatte trainiert, ohne viel Talent, aber mit Fleiß, bis er endlich zu den Mittelmäßigen gehörte. Nicht Nummer eins, aber wenigstens Nummer sieben oder acht. Man darf sich nicht hängen lassen. Du kannst es schaffen, wenn du wirklich willst. Und so weiter. Sein Ehrgeiz beruhte nicht auf dem Willen, nach oben zu kommen, sondern auf der Angst abzustürzen. Vielleicht war das bei den meisten so.
    Nach zwei Stunden kamen von unten zwei Bergsteiger, echte Bergsteiger, wie es schien, starke Männer, die jünger waren als er, Männer mit Bartstoppeln und weißen Zähnen. Sie sahen wie Brüder aus, aber nur einer sprach den Dialekt der Berge, der andere redete hochdeutsch. Georg stand immer noch an derselben Stelle, er presste sich an den Fels, er ließ die Wellen über sich hinwegrollen, über ihm N., sie schwiegen. Unter ihm, nur eine Armlänge entfernt, jetzt die beiden Bergsteiger.
    Der eine der beiden Männer fasste ihn an der Hand, wie ein Kind. Er sagte ihm, dass er ruhig atmen solle, ganz langsam, er dürfe nicht hecheln. Er solle ihm seinen Rucksack reichen. Dann fragte der Bergsteiger ihn, was er beruflich mache, wo er wohne, was er gestern gegessen habe. Georg durchschaute das, es ging darum, ihn abzulenken und zu beruhigen. Dann fasste der Bergsteiger seine Hand fester und forderte ihn auf, Schritt für Schritt zu ihm zu kommen, Schritt für Schritt, bis der Grat allmählich wieder breiter wurde und er sich etwas sicherer fühlte.
    N. folgte ihnen. Das machte ihr keine Mühe. Er spürte, dass er schwankte. Der vordere der beiden Männer kletterte an ihm vorbei, jetzt hatten sie ihn von beiden Seiten. Die Bergsteiger fassten ihn, jeder mit einer Hand, sie zogen und schoben ihn wie ein sperriges Gepäckstück in einfacheres Gelände.
    Danach stiegen sie noch ein paar hundert Meter mit ihnen ab, so lange, bis die Strecke wieder einfach war, fast ein Spazierweg. Dabei verloren sie natürlich Zeit. Wahrscheinlich hatte er ihnen den Tag versaut. Einer von ihnen war Bergführer, der andere Unternehmer, er nannte den Namen seiner Firma, ein bekannter Name. Der Bergführer erzählte, dass erst kürzlich ein sehr erfahrener Kollege von ihm abgestürzt sei, und zwar kurz vor dem Tal, an einer ganz einfachen Stelle. Er sei nur drei Meter tief gefallen, tot war er trotzdem. Die erfahrenen Bergsteiger würden fast nie an den schwierigen Stellen abstürzen, weil sie da voll konzentriert sind und aufpassen, sondern fast immer an den einfachen Stellen. Wenn sie denken, dass sie es geschafft haben, und anfangen, ein bisschen zu träumen, stürzen sie ab.
    Als sie wieder die Hütte erreichten, erst dann, sagte N., dass es nicht mehr weiterginge. Sie müssten sich trennen, jetzt, hier, sofort.
    Weil ich den Berg nicht geschafft habe, sagte Georg. Weil ich feige bin, oder. Weil ich zu alt bin.
    Nein, aus tausend anderen Gründen, sagte sie, das weißt du doch alles. Dieses. Und dieses. Und dieses. Er glaubte ihr kein Wort. Das ergab doch überhaupt keinen Sinn. Warum waren sie hier? Warum waren sie losgefahren? Sie setzten sich in den Gastraum und aßen Suppe, ein paar andere Wanderer fragten sie nach der Tour über den Grat. Georg antwortete, er habe es nicht gepackt, aber für erfahrene Bergwanderer sei das bestimmt machbar. Er habe auch nicht die richtigen Schuhe dabei.
    In der Nacht hörte er sie neben sich atmen. Beide waren wach. Er überlegte, ob er die Hand nach ihr ausstrecken sollte. Er tat es nicht. Am Morgen, im ersten Licht, packte er seinen Rucksack, wie verabredet, und machte sich allein auf den Rückweg

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