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Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)

Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)

Titel: Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Martenstein
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dieses Wesen, das sie geschaffen hatten nach ihrem Ebenbild und das nach ihrem Tod fast jede sie betreffende Frage hätte beantworten können, dieses Haus verwandelte sich wie ein Mensch, der aus einem Traum erwacht und die Augen aufschlägt. Die Gegenstände schüttelten die Jahre ab, die in ihnen steckten, die langen Orlich-und-Claudia-Jahre, sie standen auf und schauten in den Spiegel. Wie komme ich hierher? Von wem stamme ich ab? Wo soll ich jetzt hin?
    Aus ihrem Esstisch wurde wieder der alte Esstisch von Claudias Eltern. Aus Orlichs und Claudias rotem Teppich wurde Orlichs Teppich. Die Bücher fluteten wie eine sich teilende Herde in zwei verschiedene Richtungen und drängten sich an ihr neues Leittier.
    Viele Dinge hatten längst vergessen, wem sie einst gehört hatten. Es war wie bei einer Vertreibung, wenn eine Familie nur noch dunkel weiß, dass sie zu diesem oder zu jenem Blut gehört, denn das schien jahrzehntelang unwichtig zu sein, das sollte auch unwichtig sein. Nun aber klopfen Leute an die Tür und sagen, du bist einer von denen. Es gibt kein wir mehr. Pack deine Sachen.
    Orlich schämte sich, weil er um die Dinge genauso trauerte wie um das andere. Wie konnte er um seine Knoblauchpresse trauern? All diese Dinge besaßen ein Leben, fand er, weil sie materialisierte Erinnerung waren. Er nahm in der Küche zum letzten Mal die Knoblauchpresse in die Hand, die sie zusammen bei Ikea gekauft hatten, an einem sonnigen Tag, das wusste er noch. An einem Stand vor dem Eingangstor hatten sie Bratwurst gegessen, das sah er vor sich, und er erinnerte sich daran, wie er mit dieser Knoblauchpresse, die jetzt aufwachte und in den Spiegel schaute und sich als Claudias Knoblauchpresse erkannte, für sie beide gekocht hatte, sehr oft. Er fragte sich, wie er die Erinnerung an das Kochen ohne die Hilfe dieser Knoblauchpresse bewahren sollte.
    Bei ihren früheren Umzügen hatte Claudia immer ein paar Kisten mit Getränken besorgt und einen Imbiss für die Arbeiter vorbereitet. Das entfiel diesmal, Orlich hatte nicht daran gedacht. An solche Dinge musste er in Zukunft selber denken. Die Arbeiter waren schweigsam.
    Sie standen im Garten, noch einmal ein Paar, und schauten den Arbeitern zu. Würde er nie wieder in den Supermarkt gehen, zu dessen Kunden er seit 15 Jahren gehörte, würde er nie wieder der dicken Wurstverkäuferin Guten Tag sagen, nie wieder auf seiner Lieblingsstrecke im Wald joggen, nie wieder nach der Arbeit in seinem Lieblingscafé einen Kaffee trinken, bevor er nach Hause ging, wo Claudia wartete, ging in diesem Moment wirklich etwas zugrunde, das er sich Stück für Stück eingerichtet und angenehm gemacht hatte, etwas, das nicht strahlend war, aber doch behaglich, friedlich, anstrengungslos, Skifahren auf einer glatten, sanft abfallenden Piste, musste das wirklich sein, würde ihn wirklich etwas Besseres erwarten? Vielleicht hatte er das maximale Glück, wie ein Exemplar unserer Gattung es vernünftigerweise erwarten kann, längst gefunden. Vielleicht war Glück genau das, was er hier als Ruine zurückließ. Erst in ein paar Jahren würde er es wissen. War die Suche nach dem Glück, zu der man sich verpflichtet fühlte, womöglich das, was einen überhaupt erst ins Unglück stürzt?
    Er erinnerte sich an die ersten Jahre mit Claudia. Er war verrückt gewesen nach ihrem Geruch. Sie hatten einander täglich kleine Geschenke gemacht, er hatte Gedichte für sie geschrieben, der Sex war besser gewesen als mit N., und genau deshalb verließ er jetzt dieses Haus, weil er die Erinnerungen nicht begraben konnte. Er hatte täglich die Claudia von heute mit der Claudia von einst verglichen, wie sie es wohl umgekehrt mit ihm ebenfalls tat. Sie beide hielten den Vergleich mit ihrem alten Spiegelbild nicht mehr aus. Er erinnerte sich an einen Science-Fiction-Roman, den er vor vielen Jahren gelesen hatte. In einer zukünftigen Welt lebten die Menschen in Armut und Hunger, die Regierenden versorgen sie mit einer Droge, die ihnen ihr Leben reich und luxuriös und in jeder Hinsicht perfekt vorkommen lässt. Der Schwindel fliegt auf, die Menschen erkennen ihre tatsächliche Lage und revoltieren. Der Roman geht, seiner Erinnerung nach, nicht gut aus, im Gegenteil, alles wird noch viel schlimmer. Die Vertreibung aus dem Paradies beginnt mit einer Erkenntnis. Sie erkannten, dass sie nackt waren, so heißt es doch in der Bibel. Orlich hätte gerne eine Droge gehabt, die ihm Claudia ewig begehrenswert und ewig interessant

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