Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)

Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)

Titel: Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Martenstein
Vom Netzwerk:
geworden.
    Das Verhalten, das N., wie er vermutete, von ihm erwarterte, ein gelassenes, souveränes Verhalten, autonom, in sich ruhend, war ihm nicht möglich. Schweigen war manchmal die beste Lösung. Man schweigt, man beruhigt sich. Man gewinnt Abstand.
    Auf der Dachterrasse stand ein alter Klappstuhl. Orlich setzte sich und blieb lange sitzen, der Blick über die Dächer und in die beleuchteten Wohnungen beruhigte ihn. Er hätte gerne mit Claudia gesprochen, ihr sein Leid geklagt, wie all die Jahre. Um elf Uhr war er müde genug, um auf der Matratze einzuschlafen.
    N. kam am nächsten Nachmittag. Sie brachte ein paar kleine Einzugsgeschenke, einen Schwamm und Badeseife, dazu eine Kassette mit Element-of-Crime-Songs, die sie für ihn aufgenommen hatte. Sie war wütend. Schweigen war in ihrer Welt keine akzeptable Lösung.
    »Du bist gewalttätig zu mir«, sagte sie, »dein Verhalten ist passiv-aggressiv. Wenn du keine Zeit oder keine Lust zum Reden hast, sag es mir. Gib mir eine Begründung.«
    Orlich antwortete, dass er nicht alles rechtfertigen wolle, was er tue. Manche Dinge erklärten sich von alleine.
    In ihrer Tasche klingelte es. N. und Orlich warteten schweigend ab. Es klingelte sofort wieder. Sie holte das Mobiltelefon aus der Tasche, ein Gerät, das Orlich nicht besaß, sich aber demnächst anschaffen wollte, und drückte einige Knöpfe. Von diesem Moment klingelte das Gerät nicht mehr, sondern gab in unregelmäßigen Abständen Schnarr- und Schnarchgeräusche von sich. N. erklärte Orlich, dass jedes dieser Geräusche eine eintreffende Sprachnachricht anzeigte. Manchmal entstand eine längere Pause, danach schnarrte es umso häufiger in umso kürzeren Abständen.
    »So viel können Menschen einander unmöglich mitzuteilen haben«, sagte Orlich. »Mach das Ding aus.«
    »Bist du mein Chef, oder was?«
    »Es ist nicht autoritär, jemanden um etwas zu bitten.«
    »Das war keine Bitte.«
    »Man nimmt Rücksicht auf andere.«
    N. griff nach dem Telefon und drückte wütend auf ihm herum, während es schnarrte. Dann warf sie es gegen die Wand. Das Handy prallte von der Wand ab, landete zwischen zwei Umzugskisten und schnarrte weiter. Orlich ging auf die Terrasse, wo immer noch die grüne Cognacflasche stand, inzwischen nur noch halb voll, und schenkte sich ein Glas ein, sein zweites an diesem Nachmittag.
    Als er mit dem Glas wieder hereinkam, sagte N., dass sie sich etwas überlegt habe.
    »Wir treffen eine Vereinbarung. In Zukunft sehen wir uns einmal in der Woche und verbringen das Wochenende zusammen, abwechselnd bei dir und bei mir, und zwar das Wochenende von Samstagmorgen bis Montagmorgen.«
    N. sagte, sie brauche mehr Abstand. Orlich wusste nicht, was ihnen das bringen sollte. Wozu war er überhaupt ausgezogen? Wozu denn das alles? Sobald er sich bei N. auf etwas eingestellt hatte, wehte der Wind sofort wieder aus der anderen Ecke. Er konnte sich nicht dauernd umstellen. Orlich spürte langsam die Wirkung des Alkohols. Im Moment war er in der Phase, in der ihm die Dinge des Lebens gleichgültiger waren als in nüchternem Zustand, in der positiven Phase. Er musste aufpassen, nicht in die nächste, zweite Phase zu gelangen, in der er die Dinge des Lebens wichtiger nahm, als sie es verdienten. »Vor Problemen läuft man nicht davon«, wollte Orlich sagen. »Probleme geht man frontal an. Ursachenanalyse. Finden eines Kompromisses. Lösung. So geht das.« Aber er war immer noch klar genug, um stattdessen zu sagen: »Was soll denn das bringen.«

15
     
    Im ersten Jahr, nachdem N. ihn verlassen hatte, verging fast kein Tag, ohne dass Rost an sie dachte. Wenn er morgens erwachte und noch ein paar Minuten im Bett lag, kam sie zu ihm, nachmittags, wenn er im Büro saß und mit seiner Arbeit beschäftigt war, fuhr sie manchmal in ihn hinein wie ein Blitzschlag. Er erinnerte sich, ohne dass es einen Anlass gab, plötzlich an einen Tag, den sie miteinander verbracht hatten, er spürte dann etwas Ähnliches wie Schmerz, obwohl ihm nichts wehtat. Seine Muskeln verkrampften sich, in der Bauchgegend vor allem, er schwitzte, ihm war ein wenig übel. Und doch wollte er, dass die Erinnerung blieb, auch in dieser Hinsicht unterschied seine Empfindung sich von Schmerz. Dem Schmerz weicht man aus, man vermeidet die Schmerzquelle, aber in dieses hier stürzte er sich wieder und wieder hinein, ohne Freude, getrieben von einer Illusion, die er durchschaute, der Illusion, dass er wenigstens seine Erinnerung festhalten könnte.

Weitere Kostenlose Bücher