Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)
erscheinen ließ.
Der Möbelwagen fuhr mittags ab. Orlich folgte ihm mit seinem Auto. An die letzten Sekunden seines alten Lebens besaß er keine genaue Erinnerung. Claudia packte ihm noch schnell die Kaffeemaschine ein, die eigentlich ihr gehörte, sagte irgendetwas, pass auf dich auf oder so ähnlich. Sie gab ihm einen Kuss, was sie seit Monaten nicht mehr getan hatte. Sie stand vor ihrem Haus und blickte ihm nach.
Am Chamissoplatz machte das Dachgeschoss den Arbeitern nicht viel Mühe. Es gab einen Aufzug und kaum größere Möbel, ein Bett und ein Sofa wollte Orlich erst noch kaufen. In der ersten Zeit musste er auf einer Matraze schlafen. Immerhin gab es Bücherregale, und auch das Telefon funktionierte, das war ja geradezu ein Lotteriegewinn. Die Arbeiter gingen, und Orlich stand inmitten der Kistenberge mit einer Tasse Kaffee in der Hand, ohne zu wissen, womit er anfangen sollte. Er hatte fast niemandem von dem Umzug erzählt und niemanden gebeten vorbeizukommen. Zwei oder drei Hilfsangebote hatte er abgelehnt.
N. war am Vorabend zu einem Moderationsseminar gefahren, zu dem sie sich schon vor Monaten angemeldet hatte. Orlich hätte nicht gewollt, dass sie wegen des Umzugs absagt, aber sie hatte ihn nicht nach seiner Meinung dazu gefragt. Sie wollte gegen drei kommen. Orlich baute aus ein paar Kisten eine Art Sitzgruppe und stellte Kerzen auf. Dann legte er eine Flasche Champagner und ein paar Tapas in den Kühlschrank, die er in der Bergmannstraße gekauft hatte.
Um kurz nach drei rief N. an, aus einer Telefonzelle. Das Gespräch war nur kurz. Sie hoffe, alles sei gut gelaufen. Sie sei leider später von Hamburg losgefahren und komme erst um fünf. Orlich ging in der Wohnung auf und ab, er versuchte, einige Dinge auszupacken und einzuräumen. Die Kisten waren nicht ordentlich beschriftet, sodass mit jeder geöffneten Kiste das Chaos größer wurde statt kleiner. Dinge kamen zum Vorschein, die er vorerst nirgendwo unterbringen konnte, zum Beispiel seine Schallplatten, während das auseinandergenommene Plattenregal noch irgendwo in einer anderen Kiste steckte.
Orlich litt unter jeder Form von Chaos, körperlich, ihm wurde davon kalt und heiß. Gleichzeitig hatte er Schwierigkeiten damit, Ordnung zu schaffen. Beim Aufräumen war er langsam und uneffektiv. Claudia hatte ihm da immer sehr geholfen. Die fremde Wohnung, in der, wohin er auch schaute, hässliche braune Pappkisten standen, das Bewusstsein, damit nicht zurechtzukommen, weil er nicht wusste, womit er sinnvollerweise anfangen sollten, die Stille um ihn herum, die Gedanken an Claudia, immer wieder Bruchstücke von Erinnerung, die wie Luftblasen in ihm aufstiegen und zerplatzten, Bilder von ihrem letzten gemeinsamen Urlaub, aus Lenas frühen Kinderjahren, der Kinderladen, Spaziergänge um den See, Hand in Hand, all das versetzte Orlich in eine Stimmung, von der er nicht wusste, ob er sie Depression nennen sollte oder Melancholie. Ich bin ein Taschenkrebs, dachte Orlich, der aus seinem Schneckenhaus herausgeschlüpft ist, weil es ihm zu eng wurde. Nun sucht er auf dem Meeresboden panisch nach einem neuen Versteck. Wenn er Pech hat, wird er gefressen.
N. meldete sich nicht. Erst um sechs rief sie an, Orlich hörte Gläserklirren und Gespräche im Hintergrund. N. sagte, hey, grüß dich. Sie sei mit zwei Typen aus dem Moderationsseminar noch etwas trinken gegangen. Sie sei schon in Berlin. Es tue ihr leid, aber diese Kontakte seien unheimlich wichtig für ihre Karriere. Ich will nicht ewig Produktionsassistentin bleiben, verstehst du. Sie redete leise, Orlich konnte sie kaum verstehen. Wann kommst du, fragte er.
Das dauert hier nicht mehr lang, antwortete sie, wie geht es dir? Nicht besonders, sagte Orlich.
Um acht wurde es allmählich dunkel. Orlich hatte schon zwei Stehlampen angeschlossen. Er trank, nicht den Champagner, sondern einen Cognac, eine mattgrüne Flasche, die sich ihm wie durch ein Wunder in einer der vorderen Kisten zwischen Handtüchern und Unterwäsche dargeboten hatte. Das Telefon klingelte. Orlich schenkte sich ein zweites Glas ein. Fünf Minuten später klingelte es wieder, und dann wieder, und wieder, immer im Abstand von fünf bis zehn Minuten. Schließlich zog Orlich das Telefonkabel heraus.
Er wollte nicht mit N. reden. Er hätte ihr Vorwürfe gemacht, in einem Ton, den man später fast immer bereut. Vielleicht hätte er auch geweint. In beiden Fällen wäre etwas zerbrochen. In beiden Fällen wäre alles nur schlimmer
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