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Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)

Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)

Titel: Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Martenstein
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Kissen unter den Kopf. Im Fernsehen – wie spät war es? Mitternacht, ein Uhr, zwei Uhr? – sah man feiernde Menschen, sie hielten Sektflaschen hoch, viele trugen Trainingsanzüge. Hupende Autos bahnten sich ihren Weg.
    »Die Mauer ist offen«, sagte N., »das ist vielleicht die politisch wichtigste Nacht unseres Lebens.«
    Jens sah den feiernden Menschen zu, es kamen immer wieder dieselben Bilder, Wiederholungen, aber man musste das wirklich mehrmals sehen, diese Massen, der Regierende Bürgermeister, singende Abgeordnete, Vopos ohne Mütze, und dann legte sich N. auf ihn, und er sah das Fernsehbild nicht mehr, er hörte nur noch den Ton. Und N. ging volles Risiko. Vielleicht wurde sie schwanger – und wenn schon, in so einer Nacht. Was man dem Kind da später alles erzählen kann. Sein Vater hätte gesagt: eine Nacht zum Heldenzeugen.
    Er erwartete, dass N. ihn hinterher losmachen würde, aber das tat sie nicht. Sie setze sich an den Rand des Bettes und zündete sich eine Zigarette an. »Wart noch ein bisschen«, sagte sie.
    Jens lag mit ausgebreiteten Armen da und schaute den feiernden Menschen zu. Als er schon fast eingedämmert war, stieß N. ihn an: »He, Bärchen, aufgewacht, das musst du sehen, das gibt’s doch gar nicht!« Groß im Bild Regula Scheurenbrandt, mit aufgelösten Haaren, eine Weinflasche in der Hand, Übergang Heinrich-Heine-Straße.
    Wahnsinn. Das war doch Wahnsinn. Dann schlief er ein, und am nächsten Morgen war N. nicht mehr da. Sie hatte die Handschellen aufgeschlossen.

13
     
    Auf dem Weg zur Berghütte stritten sie sich, schwer zu sagen, worüber. Die Hütte lag fast zweitausend Meter hoch, das heißt, sie mussten ungefähr achthundert Meter aufsteigen. Er wunderte sich, dass er so etwas schaffte. Er war das nicht gewohnt. Vielleicht half der Streit, er lenkte von der Anstrengung ab.
    Oben war es dann sehr schön. Sie saßen in der Sonne, auf einer Holzbank, betrachteten die Berge und aßen Suppe. Es waren nicht mehr viele Wanderer unterwegs, so spät im Jahr. Der Streit war einfach eingeschlafen, wie so oft. Der Streit starb nie, er schlief nur.
    Am nächsten Morgen wollten sie über den Grat, auf die andere Seite, nach Österreich. Noch einmal fast tausend Meter Aufstieg. Der Weg war auf der Karte als »Tour« eingezeichnet, nicht als »Wanderung«, was dieser Unterschied bedeutete, begriff er bald. Am Anfang liefen sie noch über steile Wiesen, dann verwandelten die Wiesen sich in Geröll. Von Zeit zu Zeit sahen sie Felsen, die mit einem roten Punkt gekennzeichnet waren. Es kam darauf an, sich in der Landschaft von Punkt zu Punkt voranzuarbeiten und auf keinen Fall auch nur einen einzigen Punkt zu übersehen. Sonst verirrte man sich garantiert. Bergwanderungen waren etwas für Pedanten.
    Sie lachten viel. Nach einer Stunde kamen sie an einen Bauernhof und kauften bei einer alten Bäuerin zwei Gläser Milch. Sie unterhielten sich darüber, dass die schönsten Momente des Reisens einen automatisch an Bilder aus der Werbung erinnern, im Gebirge besonders oft an Schokoladenreklame. Dieses Bild gerade eben, das Milch trinkende, ehrlich gesagt, ziemlich gut aussehende Paar, karierte Hemden, umringt von Kühen, eine perfekte Szene für Vollmilchschokolade. Bei Strandbildern denkt man an Rum. Oder an Parfüm.
    Sie hatten ein neues Spiel gefunden. Welches Reiseziel, welches Produkt?
    Berlin, Bier.
    Lüneburger Heide, Wurst.
    Die amerikanischen Südstaaten, Whiskey.
    New York? Am ehesten wohl Kreditkarten.
    Der Anstieg wurde steiler. Das ist jetzt richtiges Bergsteigen, dachte Georg. Von Zeit zu Zeit schaute er vorsichtig nach unten. Die Wand, so kam es ihm vor, fiel neben ihm senkrecht ab, fünfzig Meter oder so, das war wirklich unglaublich. Wozu mache ich das? Wozu ist das gut?
    Sie mussten sich an einer Steilwand entlanghangeln. Der Absatz für die Füße war jetzt nur noch ein paar Zentimeter breit. In die Wand waren Eisenringe eingelassen, durch die eine schwere eiserne Kette lief. An dieser Kette konnte man sich festhalten. Die Kette fühlte sich kalt an.
    In dieser Steilwand, etwa in ihrer Mitte, spürte Georg, dass der Weg für ihn zu Ende war.
    Er konnte nicht mehr weiter. Er konnte auch nicht zurück. Er stand einfach nur in der Wand und wartete. Er schaute nicht nach unten. Er hörte den Wind.
    N. war schon viel weiter. Er rief nach ihr. Sie kehrte um.
    »Mir geht es nicht gut«, sagte Georg.
    So, wie er in der Wand stand, war er ein Hindernis. Sie kam nicht an ihm vorbei. Beide

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