Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)
Aber die Erinnerung würde schwächer werden, das wusste er, sosehr er sie auch festzuhalten versuchte. Er wollte, dass es aufhört, und konnte den Gedanken, dass es aufhört, gleichzeitig nicht ertragen. Von außen war ihm nichts anzumerken.
Ihn wunderte, welche Bilder sein Gehirn ihm immer wieder vorschlug, nichts vordergründig Sexuelles, nicht die großen Momente, eher Kleinigkeiten, etwa, wie sie bei einer Wanderung ihre Schuhe zugebunden hatte, zwischen der Socke und dem Hosensaum sah er einen kleinen Streifen ihrer Haut, oder ein Abend am Wannsee, an dem sie nebeneinander in Liegestühlen gesessen, leise geredet und geraucht hatten, von Zeit zu Zeit war er aufgestanden, um an der Bar Getränke zu holen, diese Szene spulte sein Gehirn besonders gerne ab. Sie kannten sich damals noch nicht besonders gut, alles war offen. Manchmal sah er neue Bilder, Szenen, die es nur in seiner Phantasie gab. N. und er, zu zweit unterwegs in Amerika, in einem Hotelzimmer, gemeinsam beim Fernsehen, draußen eine brummende Eismaschine. Das hatten sie nie gemacht. Aber es wäre schön gewesen, es hätte zu ihnen gepasst.
In den ersten Monaten erwartete er noch jeden Tag, etwas von ihr im Briefkasten zu finden oder eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Das ging doch so nicht. Dann stellte er sich eben vor, dass sie an ihn dachte, genauso wie er an sie, und dass ihre Gedanken wie Ballons losfliegen, sich in der Luft treffen und ihre Schnüre sich ineinander verknoten.
Er ging, weil er das Gefühl hatte, irgendetwas tun zu müssen, öfter ins Fitnessstudio als jemals zuvor. Dort stemmte er, drei- oder viermal in der Woche, stundenlang Gewichte und lief auf einem Laufband, was er erleichternd fand. Gegen Ende des Jahres seiner Witwerschaft stellte er fest, dass er sich äußerlich verändert hatte, zum Besseren sehr wahrscheinlich. Er war schlank geworden. Dort, in diesem Studio, lernte er eine Frau kennen. Er unterhielt sich ein paarmal mit ihr, an der Bar, wo er nach dem Training meistens noch eine Viertelstunde saß, seinen Gedanken nachhing und eine Flasche Wasser trank. Nach einiger Zeit stellte er fest, dass die Frau meistens an den gleichen Tagen kam wie er.
Die Frau war klein und dunkelhaarig und arbeitete für eine kirchliche Hilfsorganisation, die Spenden sammelte und diese Spenden an andere Hilfsorganisationen weiterleitete, die irgendwo in Lateinamerika saßen. Dabei versickerte viel Geld, man konnte, wie die Frau fand, das alles besser organisieren, wenn man nur wollte. Die Frau redete viel, Rost hörte ihr zu oder tat zumindest so, das schien ihr zu gefallen. Die Organisation veranstaltete hin und wieder Konzerte, bei denen bekannte Künstler ohne Gage oder für sehr wenig Gage auftraten, als die Frau ihm davon erzählte, fragte er, ob er sie nicht einmal begleiten dürfe. Er tat so, als ob er den Sänger besonders möge, der das nächste Konzert bestritt. In Wirklichkeit kannte er den Sänger kaum, er wusste gar nicht, ob ihm diese Musik gefiel, deutscher Rock oder Rockjazz, irgend so etwas. N. hatte den Namen des Sängers ein paarmal erwähnt, sie kannte ihn wohl oder hatte ihn gekannt, auch privat. Näheres erzählte sie nicht. Überhaupt wusste Rost wenig über ihre Vergangenheit, das war eigentlich erstaunlich. Sie waren einander nahe gewesen und doch wieder nicht. Es gab so vieles, was er sie gerne noch gefragt hätte.
Die Frau sagte, wenn er mitkommen wolle, freue sie sich, das mit den Karten sei überhaupt kein Problem.
Das Konzert fand in einer Halle statt, die er kannte, er war dort zwei- oder dreimal mit N. gewesen. Rost fragte sich, ob N. auch zu dem Konzert kommen würde, denkbar war es. Würde sie eifersüchtig sein, wenn sie ihn dort mit dieser Frau sah? Die Tatsache, dass sie es war, die den Kontakt abgebrochen hatte, spielte dabei vielleicht überhaupt keine Rolle. Vielleicht würde sie ihn sehen, und sie würde alles bedauern, diese Dinge, die sich ereignet hatten, die Worte, die gefallen waren, das, was zwischen ihnen stand, die Zeit, die sie beide vergeudeten, indem sie einander nicht sahen. Denkbar war das.
Die Frau wartete vor der Halle auf ihn, sie trug ein sehr kurzes Kleid, sie war wirklich schön, und sie begann auch sofort zu reden. Rost fand es erholsam, dass er sich nichts einfallen lassen musste, es genügte, auf das zu reagieren, was die Frau sagte, und auf ihre Fragen zu antworten.
Sie standen weit vorn, direkt an der Bühne, wo ein Bereich für die Mitarbeiter der Organisation
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