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Gefühltes Wissen

Gefühltes Wissen

Titel: Gefühltes Wissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Evers
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    «Ich hab's. Ich bring dich einfach mit dem Auto hin…» Netter Mensch.

Schuld und Sühne
    Es ist ein heißer Frühlingsnachmittag. Ein sehr heißer Frühlingsnachmittag. Bepackt mit drei schweren Taschen, in Wollpullover und Mantel, mit knallrotem Kopf und triefend vor Schweiß schleppe ich mich die 10 Minuten vom Bahnhof zum Hotel. Diesen zu Fuß circa 10-minütigen Weg schlurfe ich jetzt seit gut zwei Stunden. Oder besser gesagt: Der Weg vom Bahnhof zum Hotel ist offensichtlich die einzige Strecke in der Innenstadt von Bonn, die ich in den letzten zwei Stunden noch nicht gegangen bin. Schade eigentlich.
    Sehe ein gutes Stück vor mir Flüssigkeit auf dem Bürgersteig. Gehe dorthin, beuge mich hinunter und nehme die Witterung auf. Vergleiche den Geruch der Flüssigkeit mit dem Geruch meines Pullovers. Kein Zweifel, die Flüssigkeitsspur auf dem Bürgersteig ist mein Schweiß. Ich bin im Kreis gelaufen, wer weiß, wie lange schon. Die erste Stunde hat mein Pullover den Schweiß bestimmt noch tadellos aufgesaugt. Aber irgendwann war er wohl voll. Seitdem tropfe ich. Der Pullover ist auch ganz schön schwer geworden. Verstehe langsam auch, warum das hier in der Stadt so komisch riecht. Wundere mich sowieso schon seit einiger Zeit, warum mir die anderen Passanten in immer größeren Bögen ausweichen.
    Rieche nochmal am Schweiß auf dem Bürgersteig. Analysiere genauer. Stelle fest, dass auch Tränenflüssigkeit dabei ist. Offensichtlich weine ich auch schon seit einiger Zeit leise vor mich hin. Merkt man gar nicht, wenn eh das ganze Gesicht unter Wasser steht.
    Ich habe mich verlaufen. In Bonn. In Bonn verlaufen. Das glaubt mir in Berlin doch keiner. Die lachen mich doch aus.
    Im kleinen Bonn. Fühle mich gedemütigt. Natürlich könnte ich jemanden nach dem Weg fragen.
    Aber man kann kaum beschreiben, was für ein Gefühl es ist, als Berliner einen Bonner nach dem Weg fragen zu müssen. Das ist doch verkehrte Welt, gegen die Vorsehung, das Universum würde implodieren. Und ich wäre schuld. Ich hätte nie gedacht, dass ich mal in eine Stadt kommen würde, in der sich die Bonner besser auskennen als ich.
    Und wenn ich einen Bonner frage: was, wenn der vor kurzem auch schon mal in Berlin war, sich verlaufen hat, einen Berliner nach dem Weg gefragt und eine typische, ortsübliche Berliner Antwort bekommen hat? Mit einer ordentlichen Portion Berliner Witz und Schnauze:
    - Zum Reichstag jeht's hier nich'.
    - Wegauskünfte nur wochentags zwischen 9 und 9 Uhr 15.
    Oder: Na, da fahrn Se am besten zum Bahnhof Zoo, steigen in einen Zug in Richtung Bonn und gucken zu Hause nochmal in Ruhe in Ihren Atlas.
    Der wartet doch nur auf eine Chance zur Rache. Schleppe mich traurig zum Rheinufer, wringe meinen Pullover aus und beobachte, wie der Pegel des Rheins ein gutes Stück steigt. Ich muss etwas unternehmen, will nicht auch noch für das nächste Rheinhochwasser verantwortlich sein. Fasse mir ein Herz und spreche den nächstbesten Passanten an. Ich muss nur charmant sein, erst mal so ins Gespräch kommen, mich vielleicht nicht gleich als Berliner zu erkennen geben.
    - Entschuldigen Sie, wissen Sie, wie spät das ist?
    - Oh, tut mir leid, nein, weiß ich nicht.
    - Oh, macht nix, kein Problem, es ist 16.38 Uhr. So, wo ich Ihnen jetzt geholfen habe, können Sie mir vielleicht auch einen Gefallen tun, wie komme ich denn hier zum Hotel Aigner?
    Er grinst mich an.
    - Na da fahrn Sie mal am besten zum Bahnhof, steigen in einen Zug nach Hause und gucken da nochmal in Ruhe im Atlas.
    Ich starre ihn fassungslos an.
    Er zeigt auf den Aktenordner unter seinem Arm. «Europäisches Patentamt». Verstehe. Eines der wenigen Ämter, die von Berlin nach Bonn umgezogen sind.
    Er grinst noch breiter.
    - Na denn, schönen Tach noch, wa.
    Mich ergreift tiefe Verzweiflung. Greife meine Taschen und stürme in die nächstbeste Bäckerei.
    - Hallo, ja, ich geb es zu, ich bin aus Berlin, aber ich hab das alles nicht gewollt. Ich war immer, hören Sie, immer gegen den Hauptstadtumzug. Ehrlich! Ich bin einer von den Guten. Ja, fragen Sie sich, warum? Gut, analysieren wir's doch mal nüchtern. Warum sollte die Regierung denn nach Berlin? Damit sie näher an den Problemen der Menschen ist. Das ist doch völlig falsch gedacht gewesen. Klug wäre es gewesen, nicht die Regierung zu den Problemen umziehen zu lassen. Sondern die Probleme zur Regierung. Damit wäre auch Berlin geholfen gewesen. Und außerdem, ich find es toll, dass die Pfannkuchen hier

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