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Gefühltes Wissen

Gefühltes Wissen

Titel: Gefühltes Wissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Evers
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Berliner heißen. Jawoll! Ehrlich!
    Dann breche ich zusammen. Als ich wieder aufschaue; bemerke ich, dass die Bäckersfrau gar nichts mitgekriegt hat, weil sie gerade irgendwie in den Hinterräumen der Bäckerei zu tun hat. Im Laden sind außer mir nur noch drei japanische Touristen, die mich irritiert betrachten und dann ein paar Fotos machen.
    Zeige unter Tränen auf die Adresse meines Hotels, und sie bringen mich da hin. Warn ja nur 200 Meter.

Stuttgarter Nächte
    Samstagnacht, 2.30 Uhr. Bin in Stuttgart auf meinem Zimmer und höre in voller Lautstärke die «Bohemian Rhapsody». Künstlerwohnungen direkt im oder über dem Theater sind eine großartige Sache. Ich liebe es, direkt aus dem Bett auf die Bühne zu schluffen und gleich nach dem Auftritt nur ein paar Schritte bis zurück zum Bett zu haben. Klar, manchmal vertut man sich mit dem Weg, schläft einen Tick zu früh ein, aber auch so eine Nacht im Theater zu schlafen kann mal ganz schön sein. Künstlerwohnungen direkt im oder über dem Theater werden allerdings dann zum Problem, wenn sich der Veranstalter, grundsätzlich berechtigt, entschlossen hat, im Anschluss an die Veranstaltung seine Kasse noch mit einer Disco aufzubessern:
    «Galileo, Galileo, Galileo dämm dämm dämm dämm, I'm just a poor boy, nobody loves me, he's just a poor boy from a poor family…»
    Früher hätte ich vielleicht gesagt, na, dann feier ich doch einfach mit. Aber es ist eine Ü-30-Party, und dafür fühle ich mich einfach noch nicht reif genug. Nicht dass ich nicht schon über 30 wäre, doch, doch, das bin ich schon. Von daher wäre ich qualifiziert. Aber Ü-30 ist nach oben hin offen, was dazu führt, dass die meisten Gäste dann doch eher so um die 50 sind. Keine Ahnung, wo die 30-Jährigen feiern, hier jedenfalls nicht.
    Nicht dass ich was gegen 50-Jährige hätte, im Gegenteil, hätte ich die Wahl zwischen einer Ü-30- und einer Ü-50-Party, würde ich wahrscheinlich die Ü-50-Party wählen. Eine seriöse Ü-50-Party, das würde mir gut gefallen. Aber 50-Jährige, die eine Ü-30-Party feiern, das ist was anderes. Sie wollen feiern wie vor 20, genau genommen eigentlich 30 Jahren. Und dafür geben sie ihr Letztes.
    Jetzt sind sie gerade in der AC/DC-Mitsingphase. «Highway to Hell…» Gott, das müssen ja Tausende sein. Seltsam, dass man, selbst wenn tausend Stuttgarter «Highway to Hell» mitgrölen, immer noch einen Akzent raushören kann. Jetzt klingt es wirklich wie eine Berliner Studentenparty in den 80er Jahren. Ich persönlich war ja eigentlich immer nur wegen der Frauen auf diesen Partys. Die Partys selbst habe ich nie wirklich gemocht. Für mich war das reine Beziehungsarbeit in perspektivischer Form. Auf Partys gehen, Bierflasche nehmen, an den Rand stellen, gucken, interessant aussehen, warten.

    Irgendwann, wenn die Party fertig ist, auch Feierabend machen, Bierflasche wegstellen, Übriggebliebene ansprechen, enttäuscht sein, nach Hause gehen. So war das. Bin ich womöglich längere Beziehungen nur eingegangen, um mal 'ne Weile nicht mehr auf diese Partys zu müssen? Könnte was dran sein. Immerhin, mit Anfang 30 ging der Partygänger von damals dann in seinen verdienten Ruhestand und konnte seinen Lebensabend genießen. Aber heute, wo keine Rente, nix mehr sicher ist, da müssen wir eben immer länger arbeiten. Die Auflösung des Generationenvertrages macht offensichtlich auch vor der Freizeitgestaltung nicht halt. Die jungen Leute können die Last der vielen Partys nicht mehr allein tragen, da müssen jetzt auch wir Veteranen ran und wegfeiern, was anliegt, damit das Sozialgefüge Deutschland nicht völlig kollabiert.
    Unten dröhnt jetzt ABBA: «Thank you for the music…» Na schönen Dank auch.
    Vielleicht muss man das Konzept dieser ganzen Ü-Partys überdenken. Sie altersmäßig genauer eingrenzen. Eher Zw.- Partys veranstalten. Zw.-30-u.-40-Partys oder eine Party 33 bis 45, könnte man dann auch themenmäßig was machen: Von Machtergreifung bis Kapitulation, die Geschichte eines Abends. Wär auch interessant, was für ein Publikum so eine Party anziehen würde…
    Hoppla, merke, wie die Dauerbeschallung langsam meine Gedanken vergiftet. Gibt es eigentlich irgendeine Studie über den Zusammenhang zwischen Lärm und Faschismus? Müsste es eigentlich. Gibt doch schließlich 'nen Zusammenhang. Ist Faschismus nicht immer irgendwie laut?
    Unten läuft mittlerweile Bots: «Was wollen wir trinken, 7 Tage lang…» Schlimm, aber andrerseits auch tröstlich.

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