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Gefühltes Wissen

Gefühltes Wissen

Titel: Gefühltes Wissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Evers
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15 Grad. Meine Laune ist sehr schlecht. Frage einen Passanten nach einem Frühstückscafe in der Nähe. Er starrt mich an. Ich warte. Er starrt mich immer noch an. Ich zünde mir eine Zigarette an. Er öffnet den Mund, sagt was, nee, war doch bloß Atmen. Die Zigarette ist aufgeraucht. Ich beginne im Kopf Berliner U-Bahnhöfe in alphabethischer Reihenfolge aufzusagen, bin gerade bei Wutzkyallee, als es plötzlich aus ihm herausbricht: «Wie war nochmal die Frage?» Ich lasse ihn stehen und gehe weiter, was er jedoch erst einige Tage später bemerken wird. Vermutlich wird er in den nächsten Jahren in der Stadt als äußerst wunderlich gelten, weil er mal Kontakt mit einem Fremden gehabt hat.
    Im Prinzip lässt sich mein Eindruck vom Mindener Bahnhof in einer Begebenheit zusammenfassen. Während der gesamten Stunde Aufenthalt dort musste ich total dringend auf Toilette, bin aber nicht gegangen, weil ich es meinem Urin nicht zumuten wollte, auf diesem Bahnhof verweilen zu müssen. Abschließendes Urteil über den Mindener Bahnhof: Abreißen und Mahnmal errichten! Mit dem Text: Früher war hier mal irgendwas, jetzt isses besser!
    7.26 Uhr: Endlich! Der Zug ist da. Dieser Zug weg von hier ist das Erste, was mir an Minden gefällt. Ich verabschiede mich und suche das IC-Bordrestaurant auf. Die freundliche Atmosphäre und der bekannt gute Service der Mitropa-Reisegaststättenunternehmen erscheint mir genau das Richtige, um meine durch Minden angeschlagene Laune wieder aufzupäppeln.
    Ich bestelle einen Kaffee und frage die anderen Fahrgäste, ob es sie stört, wenn ich ein wenig vor mich hin singe. Keiner widerspricht, und ich schmettere: «Der Hahn ist tot, der Hahn ist tot.» Nachdem ich es dreimal durchgesungen habe, gehe ich davon aus, dass die Melodie nun bekannt sein müsste, und teile meine Mitreisenden für den Kanon ein.
    Keiner singt mit.
    Ich sage:
    - Gut, wenn ihr nicht wollt, ich kann auch anders. Dann schreiben wir eben ein unangekündigtes Überraschungsdiktat.
    Ich verteile Zettel und beginne den Diktattext aus dem Kopf zu rezitieren. Es ist eine kurze Abhandlung über Minden. Die Leute lachen, weil sie Bielefelder sind, schreiben aber nicht mit. Ich denke: Pah, wartet's nur ab. Irgendwann werd ich auch mal am Bahnhof Bielefeld Aufenthalt haben…
    10.48 Uhr: Berlin. Endlich. Wieder zu Hause. Ich halte kurz inne und atme einen tiefen Zug Berliner Luft ein. Ah, dieser Duft von Weltstadt, europäischem Geist und hugenottischem Savoir-vivre. Ich frage einen Passanten nach der Uhrzeit. Er lächelt mich berlinerisch an und sagt:
    - Da hängt doch 'ne Uhr, könn Se nich' kieken!
    - Aber die Uhr zeigt 2.30 Uhr.
    - Na und? Wenn Ihnen die Uhrzeit nicht passt, könn Se ja wieder weiterfahrn. Nörgler könn wa hier nich' brauchen!
    Recht hatta. Wozu braucht man in Berlin Uhren? Die Stadt schläft doch sowieso nie. Ein gutes Gefühl, in einer Stadt zu wohnen, die niemals schläft. Da braucht man nicht lange zu diskutieren, wer Wache schieben soll. Da kann man ruhig den ganzen Tag im Bett liegen bleiben, weil, die Stadt ist ja sowieso wach und passt schön auf. Und schon gar nicht muss man um sechs Uhr morgens auf dem Bahnhof stehen und frieren. Und wenn doch, dann, weil man das so will. Und wenn man was fragt, findet sich immer jemand, der sich kümmert und einen anbrüllt. Und man kann sogar zwischen sechs verschiedenen Fernbahnhöfen wählen, wo man am liebsten stehen, frieren und angebrüllt werden möchte. Das ist Freiheit. Und weil man immer noch etwas verbessern kann, wird sogar ein siebter, noch größerer und noch lauterer Fernbahnhof gebaut. Da soll dann aber nochmal einer meckern.

Stade
    Freitagnachmittag. Mein Zug kommt in Stade an. Will noch schnell im Bahnhofskiosk Zigaretten holen. Als ich den Laden betrete, begrüßt mich der Besitzer:
    - Moin, Heinz, na, auf Reisen gewesen?
    Schaue mich erschrocken um. Außer mir ist niemand im Laden. Antworte schlagfertig:
    - Ääääääh…
    - Und, zwei Schachteln Camel Filter, wie immer?
    - Ääh, ja.
    - Und, Heinz, soll ich's anschreiben, wie immer?
    - Oh…. Gern.
    - Bitte schön, Heinz, denn bis die Tage, ne?
    - Ja, bis die Tage.
    Gehe verwirrt aus dem Kiosk. Werde dann doch nachdenklich. Beschließe, nochmal zurückzugehen.
    - Was is', Heinz, noch was vergessen?
    - Äh, ja, äh, na ja, ich hab mir überlegt, ich nehm heut vielleicht doch mal 'ne ganze Stange.
    - Jungejunge, der Heinz. Na gut, ich schreib's auf.
    Er reicht mir die Stange.
    - Schönen Gruß an

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