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Gefühltes Wissen

Gefühltes Wissen

Titel: Gefühltes Wissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Evers
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Bots ist immer ein klares Zeichen, dass es die Party nicht mehr lange macht. Wie haben wir früher so schön gesagt:
    Wenn aus den Boxen Bots erschallt,
    ist meist der Kopp schon zugeknallt.
    Vor rund 12 oder 13 Jahren ist mein damaliger Nachbar mal am späten Vormittag, wohl nach langer Nacht, schwer alkoholisiert heimgekommen. Endlich zu Hause, hatte er nichts Besseres zu tun, als Bots aufzulegen, seine Anlage auf volle Lautstärke zu stellen und dann in einen tiefen alkoholkomaseligen Schlaf zu fallen. Damals gab's noch nicht wirklich CDs, die LP jedoch hatte einen Sprung, und zwar genau an der Stelle: Was wollen wir trinken? 7 Tage… - Was wollen wir trinken? 7 Tage… Was wollen wir trinken? 7 Tage… - Was wollen…
    Mein damaliger Nachbar bekam davon nichts mit. Er lag quasi bewusstlos daneben. Viele Stunden lang. Gefühlte Zeit: 7 Tage… Selbst die Polizei hat sich damals geweigert, sich der Wohnung auf weniger als 50 Meter zu nähern, und stattdessen die Evakuierung unseres und der umliegenden Häuser angeordnet. Erst einer Spezialeinheit aus Hildesheim mit hochmoderner Lärmschutzausrüstung gelang es einige Stunden später, die Wohnung aufzubrechen und den Plattenspieler zu erschießen.
    5.30 Uhr. Könnte jetzt eigentlich den ersten Zug nehmen. Wollte ich ja an sich sowieso. Aber dazu muss ich mit meinem Koffer quer durch die Disco, und das ist selbst für einen Mann mittleren Alters wie mich nicht ganz ungefährlich. Schließlich weiß ich aus eigener schmerzvoller Erfahrung nur zu gut, was in den jetzt noch übrig gebliebenen alleinstehenden Männern auf einer solchen Party um die Uhrzeit vor sich geht. Man leidet längst unter extremen Wahrnehmungsstörungen und ist dazu mal auch außerordentlich verzweifelt. Ab jetzt versucht man es bei allem, aber auch wirklich allem, ab einer lichten Höhe von 1 Meter 50.
    Und so ist es auch. Gleich vorne sehe ich zwei von diesen Männern, wie sie sich bemühen, mit ihrem ganzen Restcharme eine der großen Bass-Boxen rumzukriegen. Also gut. Nehme meinen ganzen Mut zusammen, ducke mich auf unter 1, 50 Meter runter und schleiche, den Koffer hinter mir schleifend, durch den Saal. Dabei ruf ich laut: «Bamm-Bamm-Bamm-Bamm…», damit man mich im Zweifelsfall vielleicht doch für eine tanzende Bass-Box hält. Stoße mit meinem Kopf vor den Bauchnabel eines Mannes. Der strahlt mich im Rahmen seiner noch verbliebenen Möglichkeiten an. «Hähähähää, mir machste nix vor! Hähähää, ich kenn mich aus, hähäää, ich hab geseh'n, wie du dich bewegst, hähäää, ich bin 'nen Netter, hähää, echt, hä, gut, also, was machen wir denn noch mit dem angebrochenen Abend?»
    Er ist tatsächlich nicht mal unsympathisch. Bedaure, dass ich ihm nicht helfen kann, sage:
    - Tut mir leid, aber is' echt spät geworden. Ich muss nach Hause.
    - Hähähähääää… , is doch nich' schlimm, hähää, aber solltest nich' alleine gehen, hähää, ich bring dich…
    - Echt?
    - Aber klar, Ehrensache, hähähää…
    - Is aber ein ganzes Stück.
    - Egal, ich hab Zeit, hähäää…
    Hänge seine Hand an meinen Koffer und ziehe ihn quer durch die Stadt. Während ich am Bahnhof Zeitungen kaufe, schläft er mir doch noch ein. Hänge seine Hand unauffällig an einen anderen Koffer und steige in den Zug. Hoffe, er kommt in gute Hände.

Fahrtenschreiber 2
    Sonntagmorgen, 4.45 Uhr: Ich muss aufstehn. Die nächsten 20 Minuten werde ich nichts anderes denken, als: Warum? Mein Bruder hat sich bereit erklärt, mich zum Bahnhof in Osnabrück zu fahren. Eine 40-minütige Fahrt. Wir sitzen gerade im Auto, da sagt er auch schon den schlimmen Satz: «So, nu unterhalt mich aber auch, sonst penn ich gleich wieder ein.» Na gut, werd ich ihn eben unterhalten. Ich versuche das Autoradio einzuschalten, aber als meine Hand den Regler erreicht hat, bin ich vom Armanheben so erschöpft, dass ich sofort einschlafe.
    Am Bahnhof weckt er mich. Ich entschuldige mich, dass ich mit meiner Hand die ganze Zeit das Radio blockiert hatte, aber er sagt, es sei kein Problem gewesen, ich hätte die komplette Fahrt über im Schlaf vor mich hin gebrabbelt.
    Er verabschiedet sich mit einem kernigen: «Von mir erfährt keiner was, und wenn doch, is' ja lange nicht gesagt, dass unser Vater mir glaubt!», und ich besteige den Zug.
    6.38 Uhr: Komme in Minden an. Eine Stunde Aufenthalt. Der Bahnhof ist geschlossen. Alles ist geschlossen. Die Idioten wollen mich wirklich eine Stunde auf dem kalten Bahnsteig stehen lassen. Bei minus

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