Gefühltes Wissen
die Familie!
- Klar.
Ich weiß nicht, wieso, aber Stade gefällt mir irgendwie. Verstaue die Zigaretten und gehe zum Taxistand vor dem Bahnhof. Nehme das erste Taxi, werfe meine Tasche auf die Rückbank, steige ein und beginne, nach der Adresse vom Veranstalter zu kramen.
- Guten Tag, ich möchte gerne nach…
- Mensch, Heinz, ich weiß doch, wo du wohnst.
Das Taxi fährt los. Ich will was sagen.
- Bpffrf…
- Und? Wollte dein Astra wieder nicht anspringen?
- Nein, nein, das ist es nicht, ich…
- Verstehe, Silke brauchte den Wagen. Jaja, so ist das.
- Nein, nein, so ist das eben nicht…
- Ach, Heinz, mir brauchste doch nix zu erzählen.
Beschließe, dass hier jeder Widerstand sinnlos ist, und lasse es geschehen. Irgendwo in der Vorstadt vor einem Einfamilienhaus setzt er mich ab. Ich bedanke mich. Zücke schon ein wenig halbherzig mein Portemonnaie, als er losbrüllt.
- Spinnst du? Da gibste mal einen für aus, dann ist das gut.
- Ja, ich hatte mir schon fast so was gedacht.
Er fahrt wieder los. Ich schaue mich Hilfe suchend um. Eine junge Frau kommt aus dem Haus gestürmt, in der Hand ein erstaunlich großes Brotmesser, das lustig in der Frühlingssonne blinkt. Sie schreit mich an:
- Ich glaub's ja nich'. Was willst du denn noch hier?
- Äääh, Silke?
- Na, wer denn wohl sonst. Na, du hast ja Nerven, hier nochmal aufzukreuzen.
- Silke, ich muss dir was erklären.
- Na, da bin ich ja mal gespannt. Denn mal los!!!
Sie steht jetzt direkt vor mir. Bebend vor Zorn. Die Sonnenreflexe von der blitzenden Klinge in ihrer wild fuchtelnden Hand blenden mich. Ich habe ernsthaft Angst und höre mich wie in Trance sagen:
- Ähm, es tut mir leid… es war alles meine Schuld… ich habe nachgedacht. Ich, ääh, weiß, ich kann es nicht mehr ungeschehen machen, aber ich will versuchen, mich zu ändern. Bitte glaube mir, noch nie habe ich etwas so ehrlich gemeint wie das, was ich jetzt sage, glaube mir: Es steht jetzt ein ganz anderer vor dir.
Für einen Moment starrt mich Silke ungläubig an. Dann aber lächelt sie, lässt das Messer fallen und sinkt mir in die Arme. Denke Jetzt ist auch egal, und umarme zurück.
Mittlerweile lebe ich seit gut drei Wochen hier mit Silke in Stade. Mit den Kindern verstehe ich mich bestens, und auch mit der hakenden Gangschaltung vom Astra komme ich immer besser klar. Selbst der Beruf eines Tierarztes ist gar nicht so schwer, wie ich anfangs dachte. Meist sagen mir die Bauern ja immer schon von selbst, was ich verschreiben oder machen soll. Nur eines frage ich mich manchmal: Wo ist eigentlich Heinz?
4 Virtuelles Wissen
Die Karajan-Strategie
Prolog
Von Herbert von Karajan gibt es eine schöne Anekdote. Am Ende eines großen Konzerts in Berlin widerfuhr ihm und seinen Philharmonikern etwas, das ihnen sonst nur sehr selten, eigentlich nie passierte. Sie versemmelten völlig, aber auch ganz und gar das Finale. Der Takt wurde irgendwie unklar, zwei, drei Einsätze geschmiert. Die Bratschen wussten nicht mehr, wie ihnen geschah. Die Geigen, die längst jeglichen Kontakt zum Restorchester verloren hatten, versuchten Zeit zu gewinnen und geigten zur Überbrückung irgendwelche sinnlosen Soli, während alle anderen nur noch hofften, das Ganze würde schon irgendwann mal, hoffentlich bald, Vorbeigehen. Schließlich gaben die Musiker auf, ein Instrument nach dem anderen hörte zu spielen auf, und schleppend, läppernd kam das Konzert zu einem deprimierenden Ende. Kurz: Es war das völlige Desaster. Dann absolute Stille.
Karajan jedoch legte würdevoll seinen Taktstock nieder, ging zügig zu seinem bei den Streichern sitzenden Konzertmeister, umarmte ihn und rief laut und vernehmlich: «Wunderbar! Bravo! Großartig! Ich danke Ihnen!»
Das Publikum wusste zwar nicht, was jetzt eigentlich genau geschehen war. Aber eines stand fest: Wenn es den großen Herbert von Karajan derart in Ekstase versetzte, dann musste das da gerade schon etwas Außerordentliches, Sensationelles, Gewaltiges gewesen sein.
Prompt löste sich die angespannte Stille in einem gigantischen, orkanartigen, ohrenbetäubenden Beifallssturm auf. Stehende Ovationen, nicht enden wollend, Jubelrufe. Seit ich diese Anekdote kenne, habe ich immer wieder versucht, diese Karajan-Strategie auch in meinem alltäglichen Leben anzuwenden. Aber wann immer ich auch nach einem deprimierenden, quälend schleppend sinnlos ausläppernden Finale, also jetzt zum Beispiel mal beim Liebesakt oder so, hinterher ergriffen ausrief: «Bravo!
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