Gegen alle Zeit
von Mutter Needham erfahren hatte, hatte sie ihre gesamte Garderobe mitgenommen.
»Hast du Geld?«, fragte Poll.
»Nicht genug«, antwortete Blueskin und schüttelte den Kopf.
»Dann werde ich wohl Mr. Skimpole fragen müssen«, erwiderte Poll achselzuckend.
»Wie willst du ihm erklären, dass du ein viel zu großes Kleid benötigst?«
»Es ist für eine Freundin. Eine große Freundin.«
»Er wird es dir nicht umsonst geben«, meinte Blueskin.
»Umsonst ist der Tod!«, lachte Poll. »Dann mach ich eben die Beine breit, und du bist mir was schuldig.«
»Das bin ich ohnehin.«
Am Samstag, drei Tage nach dem Brand in der Dirty Lane, hatten sie Blueskins Frauengarderobe beisammen. Mr. Skimpole hatte Poll ein schlichtes, dunkelbraunes Kleid mit hohem Kragen aus Spitze überlassen, dazu einen schwarzen Biberfellhut mit dunklem Schleier und kleiner Straußenfeder sowie beigebraune Handschuhe. Komplettiert wurde die Garderobe durch Polls schwarze Lockenperücke und edle schwarze Schnürstiefel, die ihr zu groß und Blueskin nur ein wenig zu klein waren. Die Schuhe hatte ihr mal ein Schuster als Lohn für geleistete Liebesdienste gegeben. Alles in allem eine perfekte Tarnung, die von Poll in zwei Raten bei Mr. Skimpole »abbezahlt« werden musste.
Blueskin versprach, es wiedergutzumachen, doch sie schnaufte nur abfällig, schüttelte den Kopf und meinte: »Für bares Geld wär’s um einiges teurer gewesen. Riemige Kerle sind schlechte Händler.«
Drei Tage lang hatte Blueskin das winzige Zimmer nicht verlassen. Er hatte die meiste Zeit im Bett gelegen, um sich nicht durch Schritte auf dem Boden zu verraten, er hatte seine Wunden mit Rinderfett und Kamillenblüten behandelt, sich ansonsten mucksmäuschenstill verhalten und gehofft, dass Mrs. Skimpole nicht unverhofft in Polls Wohnung auftauchte. Doch die Zimmerwirtin wie auch ihr Mann blieben der Dachkammer fern, niemand störte Blueskins Langeweile und unterbrach seine sich im Kreis drehenden Grübeleien. Und wenn Poll spätabends oder nachts nach Hause kam, freute er sich auf sie wie ein Schoßhündchen aufs Gassigehen.
Während sie dann in dem schmalen Bett nebeneinanderlagen und an die Decke starrten, erzählte Poll ihm alles, was sie auf den Straßen und in den Gasthäusern aufgeschnappt hatte. Nach wie vor war Jacks Ausbruch aus dem Newgate-Gefängnis das Hauptthema in London: Die Zeitungen berichteten beinahe täglich davon, obwohl es gar nichts Neues zu vermelden gab und nur wilde Gerüchte über Jacks Verbleib kursierten. Die Gauner und Dirnen bejubelten den Ausbrecher und schmückten das Ereignis auf ihre ganz eigene Weise aus, und die Wärter von Newgate, die offiziell für die Ergreifung des Entflohenen zuständig waren, wurden von den eigenen Gefangenen ausgelacht und von den Autoritäten der Stadt unter Druck gesetzt. Mr. Pitt, der Hauptwärter von Newgate, spielte angeblich bereits mit dem Gedanken, ein zusätzliches Kopfgeld auf Jack auszusetzen.
Doch Poll hatte auch weniger Unterhaltsames zu berichten. Am Freitag war sie auf Blueskins »Beerdigung« auf dem Friedhof von St. Andrew gewesen, und nur auf sein Drängen und Bohren hin war sie damit rausgerückt, dass es eine sehr ärmliche und schlecht besuchte Veranstaltung gewesen war. Von seinen Freunden und Kumpanen war nur Jenny Diver erschienen, weder Godfrey noch George waren anwesend gewesen, und auch Mutter Blake hatte Poll nicht am Armengrab gesehen. Dafür waren gleich zwei von Mr. Wilds Handlangern vor Ort gewesen: Hell and Fury Sykes und Quilt Arnold.
»Vermutlich wollte Mr. Wild sichergehen, dass ich nicht im letzten Augenblick aus dem Sarg hüpfe«, lachte Blueskin.
»Oder er hat auf Jack gewartet«, entgegnete Poll.
»Kann sein.«
Poll berichtete auch, was sie über Mr. Wild und das Bethlem Hospital erfahren hatte. Angeblich benutzte der Halunke das Irrenhaus dazu, unliebsame Gestalten für einige Zeit mundtot zu machen. Gerade wenn es um Zeugen ging, die am Old Bailey vorgeladen waren und dem Diebesfänger gefährlich werden konnten. Wie es schien, hatte er die besten Kontakte zum Anstaltsleiter, einem Dr. Featherstone, der gerne mal beide Augen zudrückte und die Hand aufhielt, wenn Mr. Wild seine vermeintlich Irren in Bedlam ablieferte.
Was aus Hope geworden war, das wusste Poll nicht zu berichten. Insgeheim hatte Blueskin gehofft, man würde sie nach seinem Feuertod wieder freilassen, denn als Köder war sie ja nun nicht mehr von Wert, doch diese Hoffnung war dumm
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