Gegen alle Zeit
und naiv gewesen. Hope war als Irre in Bedlam eingeliefert worden und musste ihre zwölf Monate absitzen. Komme, was da wolle.
In der Nacht auf Sonntag, während Poll schnarchend auf der Matratze lag, zog Blueskin die engen Frauenkleider an, legte das lange Nachthemd, das ihm in den letzten Tagen als Kleidung gedient hatte, auf den Tisch und schlich sich zur Tür.
»Was ist?«, murmelte Poll schlaftrunken, als er den quietschenden Türriegel zur Seite schob. »Was hast du vor?«
»Es wird Zeit«, antwortete Blueskin, ohne sich umzudrehen.
»Zeit wofür?«
»Ich muss gehen.«
»Du kannst ruhig noch ein wenig bleiben, wenn du willst.«
»Hope kann nicht länger warten. Außerdem ist morgen Sonntag.«
»Wo willst du hin?«, erwiderte Poll verständnislos.
»St. Giles. In der Verkleidung erkennt mich dort niemand. Aber vorher muss ich noch jemanden suchen.« Blueskin schaute zögerlich über seine Schulter. Es war finster in der Kammer, nur etwas Mondlicht drang durch das kleine Fenster und beschien das Bett. Poll hatte sich aufgerichtet, doch ihr Gesicht lag im Schatten und war nicht zu erkennen.
»Sei vorsichtig, Blueskin.«
»Machst du dir etwa Sorgen um mich?«, fragte er neckend, um seine wahren und widerstreitenden Gefühle zu verbergen. Wie gern wäre er zurück in Polls Bett gekrochen, um sich an ihr zu wärmen oder sich an sie zu schmiegen. Nicht um sie zu beschlafen, sondern weil es sich gut und richtig anfühlte. Irgendwie normal. Auch wenn er keine Ahnung hatte, was Normalität eigentlich bedeutete. Doch diese Gedanken waren ebenso müßig wie überflüssig, er hatte ohnehin keine Wahl, er konnte seine Schwester nicht im Stich lassen.
»Pass auf dich auf!«, erwiderte Poll ernst.
»Wenn ich in Bedlam Erfolg habe, dann sehen wir uns bald wieder«, antwortete er. »Und wenn du nichts mehr von mir hörst, dann bin ich tot.«
»Du bist bereits tot. Schon vergessen?«, antwortete Poll, stand zögerlich auf und ging auf ihn zu. Als sie direkt vor ihm stand, streckte sie die Hand nach ihm aus. Blueskin glaubte, sie wolle ihm über die Wange streicheln, doch plötzlich hielt sie inne, zupfte ihm stattdessen den Schleier zurecht und sagte: »Die Toreinfahrt ist verschlossen. Du musst über den Hof und an den Latrinen vorbei. Im Zaun fehlen einige Bretter, dahinter führt ein Kiesweg zum Hounds Ditch.«
»Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll.«
»Lass es!«, antwortete Poll und schniefte, als hätte sie einen Schnupfen. Sie räusperte sich und setzte hinzu: »Bleib einfach am Leben.«
»Zu Befehl!«, sagte Blueskin und ging hinaus.
Hinter ihm quietschte der Riegel, der Wind pfiff leise unter der Tür durch, es hörte sich beinahe wie ein Wispern oder Schluchzen an. Als er kurze Zeit später im Hof stand, bemerkte er, dass es völlig windstill war. Nicht der Hauch einer Brise wehte. Seltsam, dachte Blueskin und verschwand hinter den Latrinen.
4
Jonathan Wild war immer wie ein Vater zu ihm gewesen. Wie der Vater, den er nie gehabt hatte. Allerdings kein liebevoller oder fürsorglicher Vater, sondern ein strenger und eifersüchtiger. Wie der rachedurstige Gottvater aus dem Alten Testament, der keine anderen Götter neben sich duldete und für den Zuneigung und Mitgefühl Fremdworte waren. Mr. Wild predigte und verlangte unbedingten Gehorsam, und wehe dem, der sich seinen Geboten widersetzte.
Vor ziemlich genau zehn Jahren hatte Blueskin den Diebesfänger, der damals noch am Anfang seiner doppelbödigen Karriere gestanden hatte, kennen- und fürchten gelernt. Blueskin war noch zur Gemeindeschule in Cripplegate gegangen und hatte von einem Schulfreund gehört, ein gewisser Mr. Wild habe nahe dem Old Bailey ein Büro zur Wiederbeschaffung gestohlenen Eigentums eröffnet. Bei Tage sei dieser Mr. Wild ein ehrbarer und geachteter Ordnungshüter, der den Schurken ans Leder gehe, doch bei Nacht werde er zum durchtriebensten Halunken, der je auf Londons schmutzigen Straßen gewandelt sei. Und er suche immer junge Burschen, die für ihn stehlend und raubend umherzogen. Ein Angebot, das für Blueskin äußerst verlockend war. Er verließ kurzerhand Familie und Schule und wurde Mitglied in einer der zahlreichen Kinderbanden, die für Mr. Wild tätig waren und von ihm gelenkt wurden.
Blueskin erinnerte sich noch sehr gut an seine erste Begegnung mit dem Diebesfänger. In seinem Büro hatte Mr. Wild ihm ein großes, in Leder gebundenes Buch vor die Nase gehalten, in dem sich eine lange Liste von
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