Gegen alle Zeit
Kerzenlicht war in den Zellen und auf den Gängen strengstens verboten.
Hope würde diese zwölf Monate nicht überleben. Die Dunkelheit würde sie tatsächlich verrückt machen, sie würde so lange wie eine Wilde um sich schlagen und kreischen (Blueskin wusste das aus eigener Erfahrung), bis man schließlich gezwungen war, sie in Ketten zu legen. Was erst recht dazu führen würde, dass Hope zugrunde gehen und verenden würde. Das Irrenhaus würde Hope ohne Zweifel umbringen, und deshalb musste Blueskin etwas unternehmen.
Während er auf dem Bett lag, zur Dachschräge starrte und auf die dumpfen Geräusche im Haus hörte, kam ihm plötzlich der irre Geoff in den Sinn. Der war bereits mehrmals in Bedlam gewesen, anfangs wegen seiner abenteuerlichen Geschichten über das Feuer von 1666 und später einfach deshalb, weil er den Leuten mit seiner verschrobenen und aufdringlichen Art auf den Geist ging. Wenn Blueskin sich recht erinnerte, hatte Geoff nicht ein einziges Mal die zwölf Monate abgesessen, sondern war immer vorzeitig aus dem Irrenhaus entkommen. Als Blueskin ihn einmal gefragt hatte, wie ihm das trotz seines Holzbeins gelungen sei, hatte Geoff nur gelacht und mit bedeutsamer Miene gesagt: »Bin zwar ein Krüppel, aber nicht auf den Kopf gefallen.«
Ja, der irre Geoff konnte ihm vermutlich helfen, Hope zu befreien. Wenn er denn wollte. Doch damit kam Blueskin zu dem eigentlichen Problem des Unternehmens, und das hatte nichts mit Geoff zu tun. Es waren auch nicht seine Verletzungen, die Blueskin Sorge bereiteten. Die meisten der Brandwunden waren nur oberflächlich und leicht mit Wasser und Fett zu behandeln. Lediglich die tiefe Wunde auf der Schulter würde noch einige Wochen wehtun und womöglich Blasenwurf und Entzündungen nach sich ziehen. Aber das war zu verschmerzen. Nein, das Hauptproblem war er selbst oder besser: seine Haut!
Wie sollte er durch die Straßen gehen oder gar zu Hope ins bewachte Irrenhaus gelangen, ohne wegen seiner auffälligen Erscheinung sofort erkannt zu werden? Zwar galt er noch als tot und begraben, aber das konnte sich jederzeit ändern, wenn die Leute aus dem George Yard von dem seltsamen Mann berichteten, der ihnen im Pferdestall aus der Wand entgegengesprungen war. Und wenn Mr. Wild erst mal erfahren hatte, dass Blueskin noch lebte, würden seine Spitzel in Bedlam auf der Lauer liegen und mit gewetzten Messern auf ihn warten.
Bislang war ihm seine blaue Haut, so hässlich er sie auch fand, oft von Vorteil gewesen, weil sie die Leute einschüchterte (unabhängig davon, ob sie Blueskins Ruf kannten oder nicht), doch nun würde sie ihn auf Anhieb verraten und Mr. Wild unweigerlich auf seine Fährte locken. Und wie so oft verfluchte er seine Mutter, diese liederliche Hure, weil sie ihm die dunkle Haut eingebrockt hatte. Denn davon war er felsenfest überzeugt.
Blueskin hatte sich seit jeher darüber gewundert und amüsiert, dass alle Welt die wildesten Spekulationen anstellte, wie er zu seiner seltsamen Hautfarbe gekommen war. Dabei war die Lösung dieses vermeintlichen Rätsels ebenso naheliegend wie banal. Für Blueskin stand fest: Er war ein verdammter Sklavenbastard! Mochte seine Mutter das auch noch so vehement leugnen.
Vor etwas mehr als dreißig Jahren war seine Mutter, die spätere Mrs. Jane Blake, für sieben Jahre in die amerikanischen Kolonien deportiert worden. Blueskin hatte nie herausgefunden, weshalb sie zur Zwangsarbeit auf den Plantagen der Westindischen Inseln verurteilt worden war, aber er vermutete, dass man sie wegen Hurerei oder Diebstahls verschifft hatte. Was an sich noch nichts Ehrenrühriges war. Doch während andere weibliche Sträflinge die Gelegenheit nutzten, um sich an die dortigen Plantagenbesitzer oder Farmer heranzumachen und als deren Geliebte oder bestenfalls sogar Ehefrauen ein neues Leben zu beginnen, hatte Blueskins Mutter sich einen verdammten Sklaven aus Afrika als Beschäler ausgesucht und war mit dem kleinen Joseph im Bauch nach England zurückgekehrt. Das jedenfalls war Blueskins unbeirrbare Überzeugung.
In London wartete derweil Nathaniel Blake auf sie. Ihr einstiger Verlobter (in der Zwischenzeit verheiratet und seit Kurzem kinderlos verwitwet) ehelichte die hübsche Jane trotz ihres unübersehbaren Makels. Er konnte ja nicht ahnen, welch bläuliche Gestalt kurz darauf das Licht der Welt erblicken würde. Und als wenige Jahre später Hope geboren wurde und die abermalige Missgeburt zu ihrer aller Unglück nicht gleich wieder
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