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Gegen alle Zeit

Gegen alle Zeit

Titel: Gegen alle Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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einen aufstrebenden jungen Räuber kümmern, der in den letzten Monaten für einiges Aufsehen gesorgt hatte und zum Liebling der Londoner Unterwelt geworden war: Jack Sheppard! Der hatte das Kunststück fertiggebracht, von Mr. Wild ein Doppelkreuz erhalten zu haben, ohne vorher mit einem einfachen Kreuz versehen worden zu sein. Jack hatte von Beginn an und rundheraus abgelehnt, für den Diebesfänger, der sich sehr um ihn bemüht hatte, zu arbeiten. Was dessen Eitelkeit kränkte und seine Reputation unter den Gaunern schwächte. Kein Wunder, dass Mr. Wild geradezu darauf versessen war, Jack Sheppard nicht nur zu schnappen, sondern ihn zu zerstören. Und je länger und dreister Jack ihn an der Nase herumführte, desto schäumender wurde Mr. Wilds Wut. Vor allem, als er erfuhr, dass sich sein Spitzel auf die andere Seite geschlagen und ihn verraten hatte. Und das passierte schon zum wiederholten Male!
    Blueskin empfand echte Hochachtung vor Jack. Dass dieser sich so standhaft und erfolgreich geweigert hatte, nach Mr. Wilds Pfeife zu tanzen, imponierte ihm. Jack würde niemals für den Diebesfänger arbeiten, weder als Informant noch als Dieb. Da war sich Blueskin ganz sicher, und deshalb bewunderte er ihn. Noch nie hatte er einen Menschen kennengelernt, der so entwaffnend ehrlich und zweifelsfrei verlässlich war wie Jack. Blueskin wusste diese Qualitäten sehr wohl zu schätzen, obwohl oder gerade weil er selbst in höchstem Maße verlogen und hinterhältig war. Und wie bei extremen Gegensätzen üblich, hatten sie sich sofort angezogen und angefreundet. Blueskin war stolz darauf, Jack seinen Freund und Vertrauten nennen zu können. Für Jack würde er mit Freude sein Leben lassen.
    Neben Jack und Blueskin gab es (sah man einmal von dem undurchsichtigen Henry ab) nur einen einzigen Mann, der es in der Vergangenheit gewagt hatte, Mr. Wild offen die Stirn zu bieten. Auch dieser Mann hatte ein Doppelkreuz hinter seinem Namen, doch statt um sein Leben zu bangen, ging er unbehelligt seiner Wege, redete, wie ihm der Schnabel gewachsen war, und musste sich nicht darum scheren, ob er Mr. Wild mit seinem Gerede in die Quere kam. Denn er hatte seinen Tribut bereits gezollt. Der Mann hieß Geoffrey Ingram, besser bekannt als der irre Geoff.
    Blueskin wusste nur wenig über den harmlosen Irren, kannte ihn aber aus seiner Zeit in der Chick Lane. Geoff war eine Art Mädchen für alles in Wild’s House gewesen: Laufbursche, Stallknecht, Hausdiener, Mundschenk und Possenreißer, der mit seinen absurden Erzählungen und seiner verschrobenen Art die Leute zum Lachen gebracht hatte. Blueskin war vor sechs Jahren dabei gewesen, als der alte Geoff sein Bein verloren hatte. Oder besser, als ihm das Bein von einem silbernen Schwert direkt unterhalb des linken Knies abgetrennt worden war. Er konnte sich nicht erinnern, was Geoff verbrochen und was Mr. Wild dazu gebracht hatte, ihn derart zu verstümmeln, doch schon bald nach diesem Vorfall in der Chick Lane genoss der Alte in gewisser Weise Narrenfreiheit bei Mr. Wild. Zwar wurde er in besagter Nacht wie eine blutende Sau aus dem Haus gejagt und das abgetrennte Bein in den Fleet geworfen, doch nach seiner überraschenden Genesung wurde Geoff nicht weiter verfolgt. Statt sich über die wilden Tiraden, die der Irre über Mr. Wild verbreitete, zu ärgern und dem Krüppel das Maul zu stopfen, schenkte der Diebesfänger ihm sogar ein teures Holzbein aus Ebenholz. Als hätte er ein schlechtes Gewissen.
    Der irre Geoff war seitdem zu einer Art Phantom geworden, das stets allein durch die Gegend zog. Sein Alter wurde auf etwas über siebzig geschätzt, aber nach seinem runzligen Gesicht zu urteilen, hätte er auch hundert sein können. Er wusste vieles, obwohl er wenig begriff. Er redete unentwegt und sagte nichts. Jedenfalls selten etwas Gescheites oder Verständliches. Man sah ihn überall, aber er wohnte nirgends. Nur seinen nächtlichen Schlafplatz im Keller von Mutter Blakes Gin-Shop änderte er nie, denn er kostete ihn nichts. Und genau dort wollte Blueskin ihn nun aufsuchen.

5

    Es gab kein zweites Haus in London, das Blueskin so vertraut und gleichzeitig so vergällt war wie Mutter Blakes Gin-Shop in der Rosemary Lane. Er hatte, anders als Hope, nie länger hier gewohnt und die heruntergekommenen Räumlichkeiten immer nur für kurze Zeit als Unterschlupf benutzt, doch was er unter dem Dach seiner Mutter gesehen und erlebt hatte, war so widerlich und verdorben gewesen, dass es ihn

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