Gegen alle Zeit
und biss sich vor Schmerz auf die Unterlippe. »Solange sie mich für tot halten.« Er griff nach Polls Hand und fragte: »Kann ich eine Weile hierbleiben?«
»Heute Nacht kannst du auf dem Boden schlafen, morgen sehen wir dann weiter«, antwortete sie, richtete sich auf und entzog ihm ihre Hand. »Aber beschlafen kostet, das sag ich dir gleich. Bin schließlich keine barmherzige Samariterin.«
»Schon gut«, antwortete er und hob abwehrend die angesengten Hände. »Mir tut schon bei dem Gedanken alles weh.«
Die folgende Nacht war kurz und schmerzhaft. Zwar hatte Poll die Wunden mit frischem Wasser gewaschen und anschließend mit billigem Rindertalg eingeschmiert, das sie sich von Mr. Skimpole geliehen hatte und mit dem er sonst die Lederstiefel wichste, doch die verbrannte Haut fühlte sich anschließend keinen Deut besser an. Auch der harte Boden, auf dem Blueskin liegen musste, war nicht dazu angetan, die Schmerzen zu lindern. Jede Bewegung verursachte Höllenqualen, er schwitzte und fror zugleich, und der Durst war unerträglich. Es fühlte sich an, als würde er innerlich verbrennen.
Schließlich hatte Poll ein Einsehen und ließ Blueskin zu sich ins Bett und unter die Decke kriechen. »Beschlafen kostet«, murmelte sie im Halbschlaf.
Als Blueskin am nächsten Morgen die verkrusteten und geschwollenen Augen öffnete, war Poll bereits fertig angezogen und ausgehbereit. Nur der weiße Puder im Gesicht und die Schönheitspflaster fehlten noch, die legte Poll erst kurz vor Beginn ihrer Arbeit in irgendeinem Gasthof auf.
»Aufstehen, Schlafmütze!«, sagte sie und deutete zum Tisch, auf dem ein halber Laib Brot, ein Krug Wasser und etwas Hartkäse lagen. »Das ist alles, was ich habe. Sieh zu, wie du zurechtkommst, und lass dich nicht von den Skimpoles erwischen. Ich schließe die Tür ab und komm erst heute Abend zurück. Was du in der Zwischenzeit machst, geht mich nichts an.«
»Kommt die Wirtin zum Reinemachen?«
»Das würde sie nur zu gern«, lachte Poll und schüttelte den Kopf. »Um in meinen Sachen zu schnüffeln. Aber seitdem ich sie einmal mit der Nase in meinen Schubladen erwischt hab, ist’s damit aus. Jedenfalls hab ich’s ihr strikt verboten. Keine Ahnung, ob sie sich dran hält.«
»Ich komm schon klar«, sagte Blueskin und schloss die Augen. »Ich werde den ganzen Tag im Bett liegen und versuchen zu schlafen. Wenn’s an der Tür rumpelt, verschwinde ich durchs Fenster aufs Dach. Mach dir um mich keine Sorgen!«
»Wieso sollte ich mir Sorgen machen?«, antwortete Poll und hob verwundert die Augenbrauen.
»Und kein Wort zu niemandem!«, fuhr Blueskin ausweichend fort. »Weder Freund noch Feind dürfen davon erfahren.«
»Ja, ja!« Poll nickte und verabschiedete sich: »Cheerio!« Damit verließ sie das Zimmer und schloss die Tür von außen ab.
Und für Blueskin begann die Langeweile. Und das Grübeln.
Es gab so viel zu bedenken und zu überlegen. Er begriff die Zusammenhänge noch nicht. Vor allem musste er sich Gedanken darüber machen, wie er Hope aus dem Irrenhaus holen sollte. Mit Jack war er einmal in Bedlam gewesen, um dessen trunksüchtige Mutter zu besuchen. Mary Sheppard hatte sich im Gin-Wahn sämtliche Kleider vom Leib gerissen und war schreiend durch Spitalfields gelaufen, bis man sie wie einen räudigen Köter eingefangen und weggesperrt hatte. Zwölf Monate dauerte üblicherweise die Behandlung im Bethlem Royal Hospital, egal ob man bei der Einlieferung überhaupt verrückt oder bei der Entlassung genesen war. Ein Jahr lang wurden die Irren, Übergeschnappten und Trinker weggeschlossen, mit eiskaltem Wasser, Aderlässen und Stockhieben »zur Vernunft gebracht« oder, wenn die Behandlung keine Wirkung erzielte, in Ketten gelegt. Anschließend wurden sie, bekloppt wie sie waren, wieder auf die Straße gesetzt. Bis sie erneut auffällig oder widerspenstig wurden.
Was Blueskin bei seinem Besuch in Bedlam vor allem entsetzt hatte, waren der Lärm, der Gestank und die Dunkelheit gewesen, die in dem Irrenhaus wie selbstverständlich hingenommen wurden. Viele Verrückte schrien wie am Spieß, und niemand unternahm etwas dagegen; um die Sauberkeit des Hauses und der Eingesperrten schien sich ebenfalls keiner zu kümmern, deshalb stank es überall nach Schweiß und Scheiße; und weil die Fenster so winzig, obendrein vergittert und in großer Höhe über dem Boden angebracht waren, herrschte in Bedlam am helllichten Tag Dämmerung und zu allen anderen Zeiten finstere Nacht. Denn
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