Gegen alle Zeit
können. Alles, was an diesem Tag mit ihm geschehen war und was er durch sein Simulieren provoziert hatte, war einem eher vagen Plan entsprungen und hatte nur das Ziel gehabt, ihn aus seiner aussichtslosen Lage in der Zelle zu befreien. Diese Lage hatte sich nun geändert, denn anders als in den vergangenen Tagen war er seinen Peinigern gegenüber im Vorteil. Zwar war er immer noch eingesperrt und wurde von einem blutrünstigen Mörder vor der Tür bewacht, doch der hatte keine Ahnung, was tatsächlich mit Henry los war. Und das galt es auszunutzen.
Nach einem weiteren Schluck aus der beinahe leeren Flasche ging er zurück ins Laboratorium und stellte zufrieden fest, dass seine Knie nicht mehr zitterten und seine Füße sicher auftraten. Wie bei einem Alkoholiker, der seine tägliche Dosis erhalten hatte. Aus dem Vorraum hörte er leises Lachen und hin und wieder vereinzelte Ausrufe unterschiedlicher Männerstimmen. Bernie und Seamus waren zum Kartenspiel herübergekommen.
Er ging zum Fenster und starrte hinaus auf das nächtliche London, als läge dort die Lösung all seiner Probleme verborgen. Nur wenige Lichter brannten in der Stadt, in der Ferne glaubte er das Monument mit seiner vergoldeten Spitze in den Himmel ragen zu sehen. Dahinter die bebaute und bewohnte London Bridge, die so gar nichts mit der modernen Autobrücke zu tun hatte, die heute an selber Stelle über die Themse führte. Sein Blick ging zum riesigen Komplex des Bethlem Hospitals, das sich vor ihm ausbreitete und dessen Gebäudeflügel wie ausgestreckte Arme wirkten, die sich an der alten Stadtmauer festhielten. Direkt vor ihm befand sich die Baustelle des noch dachlosen Anbaus, in dem Bess gefangen gehalten wurde. Wie Rapunzel im Märchen.
Bei dem Gedanken an das Märchen musste er unwillkürlich lächeln. »Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter!«, flüsterte er und erschrak im gleichen Augenblick. Der hölzerne Baukran oder Flaschenzug hatte sich bewegt! Hatte der waagerechte Galgen zunächst nach Süden gezeigt, so ragte er nun über den Dachboden hinaus nach Westen. Und wenn Henry sich nicht täuschte, baumelte etwas an einem Seil herab und schaukelte hin und her. Weil das Seil auf der Westseite des Anbaus hing, war Henry die Sicht darauf genommen. Also ging er hinüber in Dr. Featherstones Büro und schaute aus dem dortigen Fenster. Und tatsächlich, wenn er ganz nah ans Fenster heranging und an der Mauer entlangschielte, sah er, dass an dem Lastenkran etwas Dunkles hing. Ja, es hatte beinahe den Anschein, als klammere sich dieses Dunkle an der Außenmauer fest. Und im nächsten Augenblick hörte er Bess schreien.
Ihre rauchige und durchdringende Stimme war unverkennbar, und sie hatte sehr laut geschrien, beinahe panisch oder zu Tode erschrocken. Es hatte geklungen wie: »Nein! Lass mich!« Doch ebenso plötzlich war alles wieder still. Totenstill.
Kurz darauf hörte Henry Geräusche aus dem Vorraum. Stimmen, Rascheln, das Rücken von Stühlen. Dann einen Schlüssel im Schloss. Hastig verließ er das Arbeitszimmer, zog die Tür hinter sich zu und warf sich regelrecht auf den Steintisch. Gerade noch rechtzeitig, bevor die Tür geöffnet und eine Kerze in den Raum gehalten wurde.
»Nichts!«, sagte der Lehrling im Blaukittel. »Liegt da wie tot.«
»Aber da war was!«, beharrte Seamus. »Ihr habt den Schrei doch auch gehört.«
»Das kam von draußen«, meinte Bernie.
»Könnte das Weibsbild gewesen sein«, knurrte Hell and Fury.
»Ach was, wahrscheinlich einer von den Verrückten!«, wehrte Bernie ab. »Lasst uns weiterspielen.«
Henry lag reglos auf dem Steintisch, den Kopf zur Seite gewandt, und schaute durch die halb geschlossenen Lider zur Tür von Dr. Featherstones Büro. Es schoss ihm heiß durch den Körper, als er den Schlüssel im Schloss stecken sah. Hoffentlich bemerkte ihn niemand. Doch schon im nächsten Moment verschwand die Kerze wieder, und die Tür zum Vorraum wurde geschlossen.
Henry stand auf, näherte sich der Tür und horchte. Durch das Holz hörte er Bernie jammern: »Das ist nicht dein Ernst, Seamus! Du willst jetzt nach draußen?«
»Und ob!«, lautete die Antwort seines Kollegen. »Wir müssen nachschauen, was da los ist.«
»Aber nicht mitten im Spiel.«
»Wir können ja nachher weiterspielen«, meinte Duncan.
»Wehe, du gehst mir an die Karten!«
»Gutes Blatt, was?«, antwortete der Lehrling.
»Los, Bernie!«, befahl Seamus.
Es raschelte, eine Tür schlug zu, dann war Ruhe.
Nach einer
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