Gegen alle Zeit
durch einen vorgeschobenen Riegel verschlossen waren. Wie bei einem Pferdestall. Henry kroch zu der Tür, öffnete den unteren Teil und schlüpfte durch die Öffnung in einen Raum, dessen Ausmaße und Einrichtung in der Dunkelheit nicht zu erkennen waren. Dies musste die Pförtnerloge sein, von der Mr. Bramble gesprochen hatte. Und tatsächlich fand Henry nach einigem Suchen und Tasten an der gegenüberliegenden Wand eine niedrige halbrunde Tür, die sich mit Mr. Brambles Schlüssel öffnen ließ und nach draußen führte. Henry ließ wie gewünscht den Schlüssel im Schloss stecken und trat hinaus. Er war frei!
Zwar war das gesamte Gelände von einem hohen und mit Spitzen besetzten Eisenzaun umgeben, doch auf der Frontseite des Bethlem Royal Hospitals, die nur von Besuchern, nicht aber von den Kranken und Irren betreten werden konnte, diente dieser Zaun vor allem repräsentativen Zwecken. So waren die Gitterstäbe mit Rosenornamenten und Querstreben in Rankenform versehen, die das Erklettern des Zauns merklich erleichterten. Nur die Spitzen stellten ein letztes Hindernis dar, an dem sich Henry die Hände und den Hintern schrammte, doch dann war er aus Bedlam entkommen.
Im Osten dämmerte es bereits, als er in den nebligen Feldern verschwand, die einst morastig gewesen waren und der gesamten Gegend ihren Namen – Moorfields – gegeben hatten.
8
Henry war die ganze Zeit auf dem Holzweg gewesen. Das war ihm in Bedlam klar geworden. Acht Tage dauerte dieser Albtraum nun schon, doch erst jetzt hatte er begriffen, wie verblendet oder zumindest kurzsichtig er gewesen war. Alles hatte er immer nur auf sich bezogen, wie ein kleines Kind, das nicht einsehen wollte, dass es nicht der Mittelpunkt der Welt war. Henry hatte in der Bettleroper den Captain Macheath gespielt und war kurz darauf dem tatsächlichen Räuberhauptmann Jack Sheppard begegnet. Also hatte er fortan den Captain Macheath gemimt, um Jack nahezukommen und zu beeindrucken. Er war zu Mack the Knife geworden! Denn Jack musste der Schlüssel sein, der Henry das Tor zur Gegenwart öffnete. Das erschien Henry naheliegend und offensichtlich. Und beinahe logisch.
Aber es war falsch!
Wie selbstgefällig und eitel war er gewesen, dass er gedacht hatte, er müsste die Bettleroper quasi neu erfinden, indem er den Schriftsteller Gay mit dem Komponisten Pepusch zusammenbrachte. Was änderte das schon? Was brachte es ihm ein? Es ging gar nicht um Henry (und damit nicht um Jack Sheppard oder seine Bande), sondern um Sean Leigh. Es ging um den Mann, dessen Blut er an den Händen hatte. Sarahs neuen Freund, den er im Postman’s Park mit einer Eisenstange niedergestreckt hatte.
»Du hast ihn umgebracht!«
Wenn das stimmte und Henrys Reise durch die Zeit nichts anderes als eine Flucht war, wovon er inzwischen fest überzeugt war – auch wenn ihm immer noch völlig schleierhaft war, wie so etwas geschehen konnte –, dann blieb ihm nur die völlige und sofortige Kehrtwende. Er musste sich seiner Schuld stellen, Verantwortung für seine Tat übernehmen und die direkte Auseinandersetzung suchen. Sean Leigh hatte auf der Bühne den Hehler Peachum gespielt, und dieser Peachum war dem realen Gauner Jonathan Wild nachempfunden. Also war der Diebesfänger die zentrale Figur in diesem verwirrenden Geflecht. Mit ihm musste Henry sich messen, mit ihm ins Reine kommen. Doch dazu brauchte er den Brief, das war der einzige Ansatzpunkt, der Henry einfiel. Um Bess zu befreien, Wild zu befrieden und sich selbst zu erlösen.
Die Frage war nur, ob es ratsam oder erstrebenswert war, erlöst zu werden und in die Gegenwart zurückzukehren. Denn dort wartete womöglich die Zelle auf ihn, der er gerade erst auf so kuriose Weise entkommen war. Wollte er wirklich ins heutige London zurück, um dort im Pentonville-Gefängnis einzusitzen? Was erwartete ihn in der Gegenwart? Was trieb Henry zurück? Oder anders gefragt: Was hielt ihn hier? Gab es einen Grund, im Jahr 1724 zu verweilen? Die Antwort auf diese letzte Frage war einfach und dennoch kompliziert. Sie lautete: Bess.
Als er ihr gestern ins Ohr geflüstert hatte: »Ich liebe dich«, da war das kein Schauspiel gewesen. Keine Lüge, kein Simulieren. Und auch wenn sie seine Worte mit einem flapsigen »Erzähl mir was Neues!« abgetan hatte, änderte das nichts an Henrys Gefühlen, so unsinnig und gefährlich sie ihm auch erschienen. Ja, er hatte sich gegen alle Vernunft und wider besseres Wissen in Bess verliebt, in eine durchtriebene
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