Gegen alle Zeit
Weile war Duncans Stimme zu hören: »Kannst du draußen was erkennen?«
»Nichts«, antwortete Sykes, der vermutlich am Fenster stand. »Alles pechschwarz! Verdammter Neumond.«
Wieder kehrte Ruhe ein. Eine Zeit lang passierte nichts, kein Ton war zu hören, weder von draußen noch aus dem Vorraum. Sykes und Duncan schienen sich sehr wenig zu sagen zu haben. Dann ein Schrei. Von draußen. »Nein!« Die Stimme eines Mannes. »Halt dein Maul!«
»Verflucht!«, stieß Hell and Fury aus. »Was war das?«
Henry lief zum Tisch, weil er befürchtete, die Tür würde erneut geöffnet, doch stattdessen hörte er Hell and Fury sagen: »Bleib du hier! Ich schau draußen mal nach. Irgendwas stimmt da nicht.«
Schritte entfernten sich eilends, eine Tür knallte, dann war alles wieder still.
Nun war nur noch ein Wärter vor der Tür: Duncan, der Lehrling. Und der war unbewaffnet, wenn Henry sich recht entsann. Aber sicher war er sich nicht.
Aus dem Hof war erneut die Männerstimme zu hören: »Du lügst, du dreckige Hure!« Henry glaubte die Stimme zu erkennen, doch das war ganz unmöglich. Denn Tote schrien nicht.
Er verscheuchte den absurden Gedanken und versuchte sich zu konzentrieren. Was nun?! Er kam sich vor wie in einem Hollywood-Actionfilm und fragte sich, was Bruce Willis an seiner Stelle getan hätte. Der Sherry!, schoss es ihm durch den Kopf. Er lief in den Nachbarraum, griff nach der Flasche, leerte den Rest mit einen kräftigen Schluck und warf auf dem Weg zurück den niedrigen Instrumententisch um, der laut scheppernd auf den gefliesten Boden fiel.
Dann stellte er sich hinter die Tür und wartete.
Es dauerte nicht lange, bis sich der Schlüssel im Schloss drehte. Die Tür wurde zögerlich geöffnet. Eine Kerze erhellte den Raum und beleuchtete den umgestoßenen Instrumententisch sowie den verwaisten Steintisch. Der erschrockene Lehrling wollte die Tür sofort wieder schließen, doch im gleichen Augenblick war Henry aus dem Schatten hervorgesprungen und hatte ihm die Sherryflasche über den Schädel gezogen.
Bewusstlos sackte Duncan in sich zusammen. Im letzten Moment konnte Henry die Kerze ergreifen, bevor sie ebenfalls zu Boden ging und erlosch. Er zog den Lehrling ins Laboratorium, betastete die Platzwunde an der Schläfe und kontrollierte seinen Puls und Atem, um sicherzugehen, dass der arme Bursche noch lebte. Dann ging er hinaus, verschloss die Tür, nahm den Schlüssel an sich und lief zu der Eisentür, die zur großen Halle führte. Kaum hatte er diese Tür geöffnet, hörte er schon hastige Schritte und laute Kommandos aus einem der Zellentrakte. Offenkundig war im Hauptgebäude Alarm gegeben worden. Sich jetzt dorthin zu wagen wäre einem Selbstmord gleichgekommen.
Es blieb nur die vordere der beiden Holztüren in dem Vorraum. Was auch immer sich dahinter verbarg. Die Tür war verschlossen, ließ sich aber mit dem Schlüssel der anderen Tür öffnen. Zum Glück war die Sicherheitstechnik im 18. Jahrhundert noch nicht so ausgefeilt, dachte Henry und betrat einen langen und sehr schmalen Raum, dessen Wände ringsum mit massiven Regalen zugestellt waren. Ein Lager- oder Vorratsraum, der nicht nur keine zweite Tür, sondern nicht einmal ein Fenster besaß. Eine Sackgasse. Dennoch schloss Henry von innen die Tür zu und blies die Kerze aus. Was blieb ihm anderes übrig?
Vor der Tür waren nun Schritte zu hören. Und gedämpfte Stimmen: »Wo sind die denn? Verstehst du das?« Dann wurde von außen auf die Klinke gedrückt.
»Zu!«
»Hier auch!«
»Seltsam.«
»Komm!«
Damit verschwanden die Schritte und Stimmen, und eine Eisentür fiel ins Schloss. Wenn Henry das anschließende kratzende Geräusch richtig deutete, war die Eisentür mit einem Schlüssel zugesperrt worden. Er saß wieder einmal in der Falle.
7
Henry öffnete vorsichtig die Holztür und betrat den leeren Vorraum. Alles für die Katz!, schoss es ihm durch den Kopf, und am liebsten hätte er wie ein kleines Kind geheult, vermutlich eine Folge des Alkohols. Doch dann schlug er sich selbst auf die Wangen und zwang sich zur Ruhe. »Reiß dich zusammen!«, zischte er, und wieder fielen ihm die Worte seines Schauspiellehrers ein: »Überrasche mich! Überrumple mich! Nicht reagieren, agieren!«
Ja, das wollte er, das musste er. Und deshalb öffnete er die Tür zum Laboratorium, zog dem immer noch bewusstlosen Duncan den Blaukittel aus, schlüpfte selbst hinein, griff nach einem der Messer, die er vorhin vom Instrumententisch gefegt
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